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Zum Weihnachtsfest 1956 kamen US-Soldaten auch ins Flüchtlingsheim am Askanischen Platz und feierten mit den Kindern.

© picture-alliance/ dpa

Berlin in den 50er Jahren: Das Tagesspiegel-Haus, ein Flüchtlingsheim

Vor 60 Jahren kamen immer mehr Menschen aus der DDR nach West-Berlin. Viele fanden Zuflucht am Askanischen Platz in Berlin-Kreuzberg.

Am dritten Tag seines Ferieneinsatzes im Flüchtlingsheim beginnt sich der Blick des 17-jährigen Thomas auf die Bewohner zu schärfen: „Bei der Ankunft sind sie verwirrt, erschöpft, den Tränen nahe oder hysterisch, schweigsam oder anspruchsvoll, ganz der eigene Mensch. Später verlieren sie dann die Hemmungen in positiver und negativer Richtung. Es kommt zu Streit und Zankereien, aber auch zu gegenseitiger Hilfeleistung.“ Und immer wieder verfallen Menschen „dem berüchtigten ,Lagerkoller’“.

Tagebuchzeilen, die hochaktuell klingen, allerdings sind sie fast 60 Jahre alt, beschreiben nicht die Situation in den Flüchtlingsunterkünften im Flughafen Tempelhof oder in Spandau-Hakenfelde, vielmehr die von 1957 im Heim am Askanischen Platz 3 – dem Gebäude, in dem seit sechs Jahren Verlag und Redaktion des Tagesspiegels sitzen.

In den Räumen also, aus denen Tag für Tag über die Flüchtlingsströme nach Deutschland und ihre Auswirkungen auf Berlin berichtet wird, waren von 1953 bis 1961 selbst Flüchtlinge untergebracht. Sie stammten allerdings nicht aus Syrien oder Afghanistan, sondern aus der DDR, ja hatten zuvor vielleicht sogar nur einige Straßen weiter östlich, jenseits der Sektorengrenze gelebt.

"Heim Dunant" war die 50. DRK-Unterkunft für Flüchtlinge in West-Berlin

Fast 1,65 Millionen DDR-Flüchtlinge wurden zwischen 1949 und 1961 in West-Berlin registriert. Nach dem 17. Juni 1953 waren die Zahlen jenes Jahres auf fast 306 000 Personen geschnellt. Das „Heim Dunant“ am Askanischen Platz 3 in Kreuzberg, benannt nach dem Schweizer Gründer der Rotkreuz-Bewegung Henry Dunant, war schon am 18. März eröffnet worden, als 50. vom DRK betriebenes Lager in West-Berlin, anfangs auf 1500 Flüchtlinge ausgelegt, später aufgestockt auf 2000 Bewohner. Insgesamt hatte es bis zum Mauerbau 91 Orte gegeben, die dauerhaft oder befristet als Flüchtlingsunterkünfte genutzt wurden. Danach hat man sie meist aufgelöst, das „Heim Dunant“ bestand noch bis zum November 1961, wurde vorerst nur eingemottet, aber nie reaktiviert.

In den damaligen Berichten des Tagesspiegels dominierte das ebenfalls 1953 eröffnete Notaufnahmelager Marienfelde, gelegentlich tauchte aber auch das Heim am Askanischen Platz auf. Ein Jahr nach der Eröffnung wurde dort eine „Spielkiste“ mit 800 Spielsachen eingerichtet, die die Flüchtlingskinder sich ausleihen konnten. 1956 schaute sogar US-Botschafter James Bryant Conant vorbei und übergab eine Spende von 220 Büchern. Es sei, so der Diplomat, wichtig, „denen, die vor der kommunistischen Diktatur flüchteten, Bücher über die Geschichte, die Kultur und die Grundsätze der freien Welt zugänglich zu machen“.

"Zwölf Menschen in einem Raum, Doppelstock-Betten"

Auch im Internet finden sich Hinweise auf das Heim am Anhalter Bahnhof. „Zwölf Menschen in einem Raum, Doppelstock-Betten, Gemeinschaftstoiletten“, so heißt es in den Erinnerungen des ehemaligen Flüchtlingskinds Karl-Ludwig Günsche ans Jahr 1953, vor dem Hintergrund der neuen Flüchtlingsströme kürzlich veröffentlicht in der „Badischen Zeitung“. Seine Familie war im Heim getrennt worden: „Ich blieb mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen, mein Vater und mein Bruder kamen in ein Männerzimmer.“ Wochen habe die Aufnahmeprozedur gedauert, „dann erhielten wir endlich den Flüchtlingsausweis C für politische Flüchtlinge – und wurden ausgeflogen in die Bundesrepublik.“

Haus mit Vergangenheit. Heute sitzt der Tagesspiegel in dem Gebäude, in dem von 1953 bis 1961 Flüchtlinge lebten..
Haus mit Vergangenheit. Heute sitzt der Tagesspiegel in dem Gebäude, in dem von 1953 bis 1961 Flüchtlinge lebten..

© Kai-Uwe Heinrich

Am eindrücklichsten aber schilderte der 17-jährige Thomas Lennert aus Zehlendorf im Tagebuch vom 1. bis 5. Oktober 1957 den Alltag am Askanischen Platz, nachzulesen in seinem Buch „Berlin, Berlin... wo führste mir nur hin?“ (MV-Verlag/Archiv der Zeitzeugen). Der Schüler am Dahlemer Arndt-Gymnasium war Mitglied der Pfadfinder, zu dessen Führungsriege der Generalsekretär des Berliner DRK, Herbert C. Stamm, gehörte. Er hatte dem hilfswilligen Gymnasiasten die ehrenamtliche Ferienarbeit vermittelt.

Mit einer gewissen Naivität, erstaunt über die sozialen Konflikte im Heim, habe er seine Erlebnisse 1957 niedergeschrieben, manchmal auch ein wenig von oben herab auf die Flüchtlinge, urteilt der langjährige Tagesspiegel-Leser Lennert heute. „Spontane Eindrücke eines 17-Jährigen, mehr war das nicht.“ Aber doch festgehalten mit guter Beobachtungsgabe.

„Über 2000 Personen (Männer, Frauen, Kinder) lebten damals am Askanischen Platz“, stets auf Abruf und voller Hoffung auf das Zauberwort „Flugschein“ – ihre Anerkennung als politischer Flüchtling, die zugleich die Weiterreise nach Westdeutschland bedeutete. Das Leben im Wohnheim war genau festgelegt. Insgesamt 23 Regeln umfasste die Hausordnung, die allen Bewohnern ausgehändigt wurde. Sowohl um deren Gesundheit (erst mal zur „Schirmbildstelle“! – also zur Röntgenuntersuchung) war man besorgt wie um deren Moral: „Männliche Heiminsassen haben um 21 Uhr die Zimmer der Frauen zu verlassen, das Gleiche gilt für Frauen in den Zimmern der Männer.“ Wäschetausch war jeden Mittwoch, Bettwäschetausch einmal im Monat. Jeder musste 14 Tage lang mit 50 Gramm Kernseife und einem Viertelpfund Seifenpulver auskommen, Kinder unter sechs Jahren stand „Feinseife“ zu.

Nur selten durften Flüchtlinge außerhalb des Lagers arbeiten

Das Heim, das über eine Krabbelstube und zwei Kindergärten verfügte, sei mit 200 Personen überbelegt, notierte Lennert. Die kleinsten Zimmer hätten sechs Betten, im größten seien 70 Menschen in Doppelstockbetten untergebracht. Zur Enge kam Lethargie, für Lennert Folge fehlender Arbeitsmöglichkeiten. „Zum Beispiel dürfen Flüchtlinge, bei denen das Aufnahmeverfahren noch läuft, nicht außerhalb des Lagers arbeiten, um den Berliner Arbeitsmarkt nicht zu überlasten. Ausnahmen bilden Mangelberufe.“

Auch auf die Sicherheit wurde geachtet, um DDR-Spitzeln das Leben schwer zu machen. Es gab Hausausweise, die beim Verlassen des Gebäudes abzugeben waren. Bei der Rückkehr war ein Zettel mit dem Namen so an die Scheibe der Wache zu halten, dass er nicht von Umstehenden gelesen werden konnte. Post wurde nicht nach den Namen, sondern nach den Ausweisnummern verteilt.

Insgesamt muss es im „Heim Dunant“ aber entspannt zugegangen sein. „Ein verhältnismäßig ruhiges und diszipliniertes Lager“, so bestätigte das dort angestellte Personal dem staunenden Schüler. Und auch Lennert selbst lernte dort anfängliche Vorurteile zu überwinden: „Habe allmählich das Gefühl, so moralisch und charakterlich heruntergekommen ist der Großteil der Leute hier doch nicht, wie sie oft beschrieben werden.“ Mehr noch: „Es waren Tage, in denen ich menschlich viel gelernt habe.“

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