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Szene

© Thilo Rückeis

Kreativwirtschaft: Jenseits der Szeneviertel

Maler, Designer, Werber, Galeristen, Musiker – immer mehr Kreative entdecken Kieze fernab der Toplagen.

Johannes Frenzel sitzt konzentriert am Schlagzeug und übt die Beats seiner Band „Apples in a Mushroom“ . Schwarze Vorhänge hängen im zehn Quadratmeter kleinen Proberaum, das Kürzel der Band prangt an den Fenstern. Zwischen der Technik stapeln sich leere Wasserflaschen. Nur zwei leere Bierflaschen lassen auf die ein oder andere feucht fröhliche Bandprobe schließen. Hier im Marzahner Orwohaus, einem alten Betonbau mit sieben Stockwerken, feilen rund 200 Bands an ihrer musikalischen Karriere. Wo früher die Firma Original Wolfen (Orwo) Filme für Kameras herstellte, ist heute die wohl kreativste Fabrik Berlins.

Die „Musikfabrik Orwohaus“ gilt als Vorreiter des Trends, dass Künstler und andere Kreative vermehrt in Gegenden außerhalb der Szeneviertel Kreuzberg, Mitte oder Prenzlauer Berg ziehen, wo laut Stadtentwicklungsverwaltung „die Experimentierräume enger werden“. Dagegen böten ehemalige Gewerbeflächen „in stilleren Quartieren“ noch ausreichend Platz und niedrige Mieten.

„Wir sind die lauteste Platte Berlins“, scherzt die Vorsitzende des Trägervereins im Orwohaus, Anne Wolf. In den Vorjahren waren einige Anstrengungen nötig, um die Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) von der Schließung abzubringen. Bereits in den 90er Jahren hatten Musiker ungestört im Gebäude spielen können, doch 2004 stellte das Bauamt starke Brandschutzmängel fest. Die TLG fand keinen Investor und wollte die damals 80 Bands auf die Straße setzen. Erst als es zu lautstarkem Protest in Form von Konzerten und Unterstützung aus der Bevölkerung und Politik gab, wurde dem Verein das Haus für 150 000 Euro verkauft. Die Lottostiftung stellte eine Million Euro für Brandschutzmaßnahmen und neue Heizungen bereit. Jetzt erwecken die frisch gestrichenen Flure fast den Eindruck eines Bürogebäudes, würden nicht im Treppenhaus vereinzelte Kronkorken und Zigarettenkippen von der rockenden Klientel zeugen.

Diese schützt ihre teuren Instrumente und Tonstudios in 100 Proberäumen mit dicken Stahltüren. Anne Wolf schätzt die Musikerzahl auf rund 800. „So genau können wir das nicht sagen, da wir immer nur den Hauptmieter kennen, sich jedoch oft zwei bis drei Bands einen Raum teilen.“ Nur fünf Mietverträge sind gewerblich, was darauf schließen lässt, dass diese Gruppen ihren Lebensunterhalt mit der Musik bestreiten – darunter die bekannten Bands „Silbermond“ und „Ohrboten“. Wie alle zahlen sie 7,25 Euro pro Quadratmeter. Das Geld kommt der Finanzierung, Sanierung und der Kulturarbeit des Hauses zu. Es gibt vier Angestellte, den Kulturmanager bezahlt der Senat. Die sieben Vereinsvorstände arbeiten ehrenamtlich, sind überwiegend selbst Musiker und organisieren Veranstaltungen. „Unsere Kulturarbeit für die Stadt ist uns sehr wichtig“, sagt Wolf. Der Verein nahm an der Fête de la Musique und am Karneval der Kulturen teil. Auf Initiative der Musiker wurde zudem die „Straße 13“, wo das Haus steht, in Frank-Zappa-Straße umbenannt. Die Berliner werden regelmäßig eingeladen: So findet am 25. Juli das „Orwoground Festival“ statt, Newcomer können ihre Kreativität vor Publikum beweisen.

Abseits der Szenekieze liegen auch die 2007 eröffneten „Uferhallen“ in Wedding. Die einstige BVG-Hauptwerkstatt beherbergt auf mehr als 3000 Quadratmetern Künstler, Musiker, Tanz- und Theatergruppen und Ausstellungen. In der Nachbarschaft wurde außerdem das ehemalige Werk des Druckmaschinenherstellers Rotaprint an der Gottschedstraße zum Kultur- und Gewerbestandort. Im Herbst 2007 erhielt die gemeinnützige Gesellschaft „ExRotaprint“ einen Erbbaupachtvertrag über 99 Jahre. Les Schliesser, einer der Gründer, spricht von einer „lebendigen Struktur“ mit Designern, Fotografen, Malern und Musikern, Kleingewerbe wie dem „türkischen Edelstahlbauer“ und Sozialprojekten.

Auch „ExRotaprint“ hatte Probleme. Seit dem Jahr 2000 waren Künstler dort aktiv, dann aber übertrug der Bezirk das Areal dem Liegenschaftsfonds, der Investoren suchte. Die Nutzer wollten nur einen Mietvertrag, aber „wir mussten kaufen“, sagt Schliesser. Dies sei nur wegen der niedrigen Weddinger Immobilienpreise gelungen. Und wie das Orwohaus brauchte man öffentlichen Druck. Für Schliesser ist klar: „Man darf die Stadtentwicklung nicht Investoren überlassen.“

Genauso sah es jetzt Stadtentwicklungsssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) bei einem „Stadtforum“ zur Kreativwirtschaft. Allerdings bräuchten Kreative, die oft nahe am Existenzminimum lebten und wenig Erfahrung in Betriebswirtschaft hätten, die „Nähe zu Profis“. Auch im Norden Neuköllns gebe es immer mehr Galerien, lobte Junge-Reyer. Mit Blick auf das Orwohaus und Projekte in Lichtenberg sagte sie: „Vor zehn Jahren hätten manche nicht gedacht, wie verlockend die Platte sein kann.“ Dass auch Randlagen wie Reinickendorf–Nord oder Lichtenrade wichtige Kulturstandorte werden können, glaube sie zwar nicht – sie lasse sich aber gern vom Gegenteil überzeugen.

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