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Willy Kressmann (3.v.l.), von 1949 bis 1962 Bezirksbürgermeister in Kreuzberg. (Links daneben Ernst Reuter).

© Kreuzberg-Museum

Wie Ernst Reuter Berlin mobil machte: Freie Fahrt für eine menschenfreundliche Metropole

Berlins legendärer Nachkriegs-Bürgermeister setzte als Verkehrsstadtrat in den Zwanziger Jahren kühne Visionen einer menschen- und klimafreundlichen Mobilität um. Ein Gastbeitrag von Sigrid Nikutta.

Ein Gastbeitrag von Sigrid Evelyn Nikutta

„Nächster Halt Kottbusser Tor“ – wer kennt es nicht in Berlin? Die historische Hochbahn zwischen Ost und West trifft auf den Nord-Süd-Tunnel der U8. Schon immer Verkehrsdrehscheibe; häufig genug auch Brennglas für Berlins Licht- und Schattenseiten. Was heute kaum einer weiß: Der „Kotti“ war einer der ersten Webknoten im einst modernsten U-Bahn-System der Welt.

„Dieser neue Untergrundbahnhof … soll das ganze Verkehrsnetz der Riesenstadt enger miteinander … verschmelzen und insbesondere den Verkehr richtig … verteilen, anstatt ihn nur an wenigen Punkten zu konzentrieren“ – das sagte 1929 bei einem Baustellentermin für die damaligen Medien ein junger, 40-jähriger Stadtrat für Verkehrswesen: Ernst Reuter.

Undatierte Aufnahme des SPD-Politikers am Schreibtisch in seinem Büro. Reuter wurde am 29. Juli 1889 in Apenrade geboren.
Undatierte Aufnahme des SPD-Politikers am Schreibtisch in seinem Büro. Reuter wurde am 29. Juli 1889 in Apenrade geboren.

© dpa/dpa

Am 29. September jährt sich zum 70. Mal der Todestag des weltweit bekanntesten „Regierenden Bürgermeisters“ der Stadtgeschichte. Was kaum einer kennt, ist die politische Vita Reuters Ende der Zwanziger Jahre in Berlin – und sein Wirken für den öffentlichen Verkehr, wovon diese Stadt heute noch profitiert. Ernst Reuters Biografie steht für eine Verknüpfung aus seiner bewegten Biografie und seinem lebenslangen Ringen für Mobilität, die allen Menschen einer Stadt dient.

Wenige Wochen bevor Ernst Reuter Ende September 1953 starb, hat „der Regierende“ unmittelbar die dramatischen Ereignisse des Volksaufstands in der jungen DDR mit Erschütterung wahrgenommen. Der Ruf nach Brot, Freiheit, Gerechtigkeit – er war ab Sommer 1953 für viele Ostberliner (und viele andere Ostdeutsche) der Auslöser für eine Bewegung gen Westen. Diese „Systementscheidung zu Fuß“ ist bekanntlich acht Jahre später durch das SED-Regime mit dem Mauerbau abrupt gestoppt worden.

Auf Druck der Sowjets durfte Ernst Reuter (SPD) nicht als Regierender Bürgermeister amtieren. Statthalterin war Louise Schroeder (li.).
Auf Druck der Sowjets durfte Ernst Reuter (SPD) nicht als Regierender Bürgermeister amtieren. Statthalterin war Louise Schroeder (li.).

© Kindermann

Reuter kannte dieses ohnmächtige Gefühl des „Eingeschlossenseins“ – 1948 rüttelte seine verzweifelte, sich überschlagende Stimme über Kurzwellen-Radios weltweit Menschen auf und läutete damit eine nachhaltige Zeitenwende ein: „Ihr Völker der Welt …, schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“ Diese Demonstration vor dem Reichstag machte Reuter zur weltbekannten politischen Ikone des Nachkriegs-Deutschland und Reuters Berlin für alle Zeiten zur Stadt des unbeugsamen Freiheitswillens.

Berlin, 1926: Ein politisch engagierter, gelernter Journalist wird Stadtrat für Verkehrswesen – das, was heute das Amt der Senatorin oder des Senators für Verkehr ist. Ein Jahr, nachdem die erste Verkehrsampel Europas am Potsdamer Platz versuchte, das damals schon vorherrschende Verkehrschaos aus Wagen mit und ohne Motor, aus Menschen, Pferden, Bussen und Trambahnen zu lenken, dachte der 37-Jährige bereits über integrierte Mobilität und Städtebau nach.

Obwohl damals mehr als heute Berlin arm und wenig sexy war, trieb er den U-Bahn-Bau unter und über der Stadt voran, er gründete aus einem Konvolut unterschiedlicher Tram- und Buslinien-Betreiber die Berliner Verkehrsgesellschaft. 

Sigrid Nikutta, Vorstandsvorsitzende DB Cargo AG

„Ausreichende gute und schnelle Verkehrsmittel sind für uns eines der wichtigsten Hilfsmittel zur Belebung des Wirtschaftslebens in dem großen Berliner Verkehrszentrum und zur Hebung des Lebensstandards der Arbeiterschaft. Dadurch wird die Freizügigkeit und Unabhängigkeit der Arbeiterschaft gefördert, werden ihre gesundheitlichen Verhältnisse gebessert und dadurch erst bekommt unsere Arbeit für den Wohnungsneubau Sinn. Neue Wohnungen sind das beste Vorbeugungsmittel auf sozialpolitischem Gebiet. Die Elendshöhlen der inneren Stadt müssen verschwinden, es muß und wird erreicht werden, daß wir die Berliner Arbeiterschaft in Wohnungen unterbringen, die uns trotz aller daraus entstehenden Lasten nachher Ausgaben für Krankenhäuser, für Kinderverschickung und für alle möglichen anderen sozialpolitischen Zwecke ersparen. Soziales Unterstützungswesen ist sehr schön. Es ist ein ungeheurer Erfolg, daß heute auf diesem Gebiete mehr geleistet wird als früher. Aber wichtiger ist die vorbeugende, vorausschauende Arbeit.“

Ernst Reuter, der in blutigen Wirren der jungen Weimarer Republik schnell von der verkopft-ideologischen kommunistischen KPD zurück zur pragmatischeren SPD wechselte, wusste genau, dass eine menschenfreundliche Metropole Berlin nur mit einer öffentlichen und für jeden erschwinglichen Mobilität eine Zukunft haben konnte – und die brauchte eine Infrastruktur. Obwohl damals mehr als heute Berlin arm und wenig sexy war, trieb er den U-Bahn-Bau unter und über der Stadt voran, er gründete aus einem Konvolut unterschiedlicher Tram- und Buslinien-Betreiber die Berliner Verkehrsgesellschaft.

Reuters Amtszeit als Stadtrat währte zwar nur relativ kurz – sie endete bereits nach knapp fünf Jahren mit seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Magdeburg 1931. Aber in ihr wurde Grundlegendes geschaffen, wovon die Menschen in dieser Stadt auch heute noch jeden Tag profitieren. Das U-Bahn-Netz Berlins war in 30 Jahren bis 1926 auf 53 Kilometer gewachsen. Dann forcierte Reuter den Ausbau – innerhalb von nur fünf Jahren war das „zweite Straßennetz“ (wie es Reuter einmal nannte) bis 1931 auf mehr als 81 Kilometer gewachsen. Es hat dann fast 100 Jahre, Wiederaufbau und Wiedervereinigung, gebraucht, um diese Kapazität auf 146 Kilometer zu bringen.

Wir wollen der Innenstadt zu neuem Leben verhelfen, sie verkehrlich und wirtschaftlich befruchten (… ).

Ernst Reuter, erster Nachkriegs-Bürgermeister Berlins

Sogar mit einem Grundprinzip von klimafreundlich-nachhaltiger Verkehrspolitik ist Reuter mit einem Netzwerkdenken meilenweit voraus, gegenüber den verheerenden Schneisen einer „autofreundlichen Stadt“ (in Ost- wie Westberlin seit 1955 gut zu beobachten….).

„Wir wollen der Innenstadt zu neuem Leben verhelfen, sie verkehrlich und wirtschaftlich befruchten (… ). Wir wollen die Menschen aus den Steinmassen hinaus ins Freie befördern und das Verwachsen der Großstadt mit dem Lande, die Entwicklung der Weltstadt zu einer Stadt im Grünen und Freien, zu einer Stadt zwischen Seen und Wäldern mit allen Kräften fördern. Es ist nicht die Aufgabe des Verkehrs selbst, Städtebau zu betreiben, aber er muß sich bewußt sein, (… ) welch eminent wichtige Voraussetzung für eine gesunde städtebauliche Entwicklung eine von modernen Gesichtspunkten getragene Verkehrspolitik schaffen kann.“

Es ist wahrlich visionär, dass diese Worte fast 100 Jahre alt sind! Reuter wusste: Mit einer menschenfreundlichen Stadt gibt es zufriedene und gesunde Menschen – und umgekehrt. Genauso wie sich Freiheit und Mobilität bedingen und doch beide nicht selbstverständlich sind, sondern Privilegien, für die es zu ringen gilt. Oder auch – wie wir aktuell in der jüngsten Partnerstadt Berlins Kiew sehen – für die es zu kämpfen gilt.

Zuarbeit: Dr. Michael Bienert; Geschäftsführer Ernst-Reuter-Archiv.

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