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Schnellverkehr. Zu hohes Tempo ist eine der Hauptursachen für schwere Unfälle. Doch die erhöhten Strafen für Raser sind wegen eines Formfehlers vorerst ausgesetzt.

© imago/STPP

Raser, Falschparker, Auto-Poser: Berlins Verkehrssünder kommen zurzeit billiger davon

Wegen einer Panne gilt wieder bundesweit der alte Bußgeldkatalog. Das erspart 673 Rasern wohl ein Fahrverbot. Tausende andere profitieren ebenfalls.

2798 Raser hat die Polizei im Mai und Juni auf Berliner Straßen mit so hohem Tempo erwischt, dass sie ihren Führerschein abgeben müssen. 673 von ihnen können hoffen, um ein Fahrverbot herumzukommen.

Und Tausende andere Verkehrssünder kommen seit Anfang Juli wieder billiger davon: Parken auf Geh- und Radwegen sowie in zweiter Reihe kostet wieder 20 statt 55 Euro, Halten auf Busspuren nur zehn.

Das Bußgeld für Angeberei durch sinnlos aufheulende Motoren wurde von 80 auf zehn Euro gesenkt, das für „unnützes Hin- und Herfahren mit Belästigung“, wie es beispielsweise auf dem Ku’damm beliebt ist, kostet statt 100 Euro wieder nur noch 20.

Zustande kommt die alte, neue Milde durch den Formfehler in der am 28. April in Kraft getretenen Verordnung zum neuen Bußgeldkatalog: Weil darin ein Verweis aufs Straßenverkehrsgesetz als juristische Grundlage der Verordnung unvollständig ist, halten Juristen die gesamte Novelle für rechtswidrig.

Nachdem der Fehler am 1. Juli publik geworden war, forderte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die Länder auf, wieder die alten Tarife anzuwenden.

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Ganz praktisch bedeutet das in Berlin laut Verkehrsverwaltung, dass seitdem „für alle noch nicht abgeschlossenen Bußgeldverfahren wieder auf die alte Bußgeldkatalog-Verordnung zurückgegriffen wird“, die bis zum 27. April 2020 galt.

Und: „Die Bundesländer hatten sich darauf verständigt, dass rechtskräftige Bescheide nicht zurückgenommen werden. Dementsprechend erfolgt nach Rechtskraft auch keine Rückerstattung.“

Experte rät: Legen Sie Einspruch ein

Ein Spezialfall sind die 673 Raser, die im Mai und Juni mit mindestens 21 und höchstens 30 Stundenkilometer über dem Limit geblitzt worden sind. Ab 31 zu viel wäre auch nach der alten Regel der Führerschein weg gewesen. „Über den Umgang mit rechtskräftig verhängten Fahrverboten ist in Berlin noch nicht entschieden. Die Prüfung dauert noch an“, teilt die Verkehrsverwaltung auf Anfrage mit.

Insofern unterscheidet sich Berlin von Brandenburg, wo der – über die Schlamperei des Bundesverkehrsministeriums sichtlich verärgerte – Innenminister Michael Stübgen (CDU) vor einer Woche die Aufhebung aller Fahrverbote angekündigt hatte, die nach dem alten Bußgeldkatalog nicht verhängt worden wären.

„Brandenburg ist mit dieser Art Gnadenerlass vorgeprescht – zu Recht“, sagt der Jurist Marcus Gülpen, Clubsyndikus des ADAC. Er rät allen, die zwischen dem 28. April und Anfang Juli mit 21 bis 30 Stundenkilometer zu viel (außerorts gilt die Spanne von 26 bis 40 Stundenkilometer) geblitzt wurden, Einspruch einzulegen.

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Der sei binnen zwei Wochen ab Zustellung des Bußgeldbescheides möglich – also wegen der mehrwöchigen Bearbeitungszeit durch die Behörden wohl noch in vielen Fällen. Die Fahrverbote würden dann wohl aufgehoben, die Bußgelder aber vermutlich nicht gesenkt.

Unter Fachleuten wird diskutiert, ob der Fehler im Bundesverkehrsministerium aus Schlamperei passiert ist oder sogar vorsätzlich, weil Verkehrsminister Scheuer die von den Ländern im Bundesrat durchgesetzten strengeren Fahrverbote erklärtermaßen kritisch sieht.

„Das Gesetz muss noch mal angepackt werden“, sagt Gülpen. „Ich könnte mir vorstellen, dass die höheren Tarife bleiben, aber bei den Grenzen für die Fahrverbote ein Kompromiss zwischen der alten und der neuen Regelung gefunden wird.“

Siegfried Brockmann, der die Unfallforschung der Versicherer leitet, hat eine Idee, wie der Kompromiss im Sinne der Verkehrssicherheit aussehen kann: „Mein Vorschlag wären 100 Euro und zwei Punkte bei mehr als 20 km/h zu schnell innerorts. Damit wäre viel erreicht, denn unser Problem sind nicht die, die aus Versehen einmal geblitzt werden, sondern die Wiederholungstäter, die bewusst und immer wieder zu schnell fahren.“

Zugleich werde so für mehr Akzeptanz der Regel gesorgt – weil ein Ersttäter, der knapp über 50 fährt und tatsächlich nur ein 30er-Schild übersieht, ohne Fahrverbot davon käme.

Wenn diese Frage geklärt ist, werden die anderen Straferhöhungen aus der Novelle nach Brockmanns Überzeugung rasch wieder in Kraft treten können, was auch zwischen Verkehrsministerium und Ländern unstrittig sei.

Es geht um viel Geld

Für Länder und Kommunen geht es dabei auch um viel Geld: Knapp 89 Millionen Euro mussten Verkehrssünder im vergangenen Jahr an die Bußgeldstelle der Berliner Polizei überweisen. Mehr als drei Millionen Verstöße betrafen den „ruhenden Verkehr“, knapp 20 Millionen von geblitzten Fahrern.

Einkalkuliert waren die absehbar höheren Einnahmen nach Auskunft der Finanzverwaltung vorab nicht, aber bei Polizei und Ämtern ist es ein offenes Geheimnis, dass die alten Tarife zu billig sind. Ein Stadtrat in Charlottenburg-Wilmersdorf beschrieb das Problem einmal so: „Wer in der Schlüterstraße Mittagessen geht, stellt sein Auto solange auf die Radspur und kalkuliert die 20 Euro dafür einfach ein.“

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