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Käthe Kuhnert (r.) und ihre 74-jährige Schwiegertochter Dorit Jenoch.

© Bernd Kuhnert

Besuch bei einer früheren Tagesspiegel-Kollegin: "Es war immer was los"

99 Jahre hat Käthe Kuhnert in Berlin verbracht – die meisten davon mit dem Tagesspiegel. Die Geschichte einer Dame aus Johannisthal.

Das leise Surren des Kühlschranks in der Ecke durchbricht die Stille im Zimmer. Der Blick aus dem Fenster fällt auf unbelaubte Bäume, dahinter rauscht eine endlose Autokarawane die Bundesallee entlang. Am Fenster sitzt eine alte Dame mit schlohweißem Haar am Tisch und liest Zeitung. Es klopft an der Tür. Herein tritt eine Schwester und bringt den Nachmittagskaffee.

„Hallo Frau Kuhnert, möchten Sie zum Kaffee auch ein Stück Kuchen?“ „Ja gern, was gibt’s denn heute?“ „Einen Pfannkuchen, gefüllt mit Pflaumenmus.“ Die Angesprochene nickt und legt den Tagesspiegel, dem sie seit 73 Jahren die Treue hält, zur Seite.

Besuch bei Käthe Kuhnert in ihrem Zimmer in einer Wilmersdorfer Pflegeeinrichtung. Anfang September, kurz vor ihrem 99. Geburtstag, ist sie hier eingezogen. „Es ist mir nicht leichtgefallen, meine kleine Wohnung nach 54 Jahren zu verlassen. Die Beine haben nicht mehr mitgemacht, und hier kann ich bequem im Rollstuhl sitzen. Die Umstellung war schwer, da bin ich ehrlich. Aber da musste ich durch“, sagt sie und ein Lächeln spielt um ihre Lippen.

Das blaue Twinset passt gut zu ihren hellwachen blauen Augen, die so viel gesehen haben. „Inzwischen habe ich mich an das viele Neue hier gewöhnt, jetzt geht es.“ Sie deutet mit ihrer rechten Hand auf das Fenster: „Wenn ich rausschaue, sehe ich viel mehr vom Berliner Himmel als früher. Morgens scheint die Sonne ins Zimmer, nachts der Mond.“

„Der Vater war streng, aber das hat mir überhaupt nicht geschadet“

Käthe Kuhnert wird am 14. September 1919 in Berlin-Johannisthal geboren. Ihre Eltern bewohnen eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Innentoilette in einem Mietshaus. Hinter dem Haus befindet sich ein kleiner Garten, in dem sie als Kind oft mit ihren Schulfreundinnen herumtobt. Der Vater verdient mit Heimarbeit Geld. Als gelernter Feintäschner fertigt er Portemonnaies aus Leder an.

„Durch die Heimarbeit meines Vaters war ich von klein auf mit Leder vertraut. Oft spielte ich mit den Lederresten. Noch heute habe ich jenen unverwechselbaren Geruch in der Nase“, erzählt Kuhnert.

Käthe bleibt das einzige Kind. In der Rückschau erlebt sie ihre Kindheit als sehr glücklich: „Der Vater war streng, aber das hat mir überhaupt nicht geschadet“, sagt sie und lacht. Im April 1925 wird Kuhnert eingeschult. Die Schulzeit macht ihr Freude, sie kommt gut mit. Sie hat zwei jüdische Freundinnen, die sie oft zum Spielen mit in den Garten nimmt. Eines Tages verlassen die beiden Mädchen die Schule; die Familie wandert nach England aus.

Nach der Volksschule beginnt Kuhnert im Frühjahr 1933 eine dreijährige Lehre als Verkäuferin bei Wertheim am Alexanderplatz. Sie will Fachverkäuferin für Lederwaren werden. „Ich kann mich noch gut erinnern“, meint sie, „wenn wir morgens zur Arbeit kamen, hieß es erst ,Guten Morgen‘. Eines Tages grüßte man nur noch mit ,Heil Hitler‘.“

Die Arbeit gefällt ihr, sie arbeitet auch nach ihrer Lehre weiter im Kaufhaus. Im Winter 1942/43 aber wird sie dienstverpflichtet. „Man schlug mir vor, als Straßenbahnschaffnerin zu arbeiten. Das wollte ich nicht, da ich schon immer mit meinen Füßen Probleme hatte“, erzählt sie. Also wird sie ins besetzte Polen geschickt, nach Krakau, wo sie in einer militärischen Einrichtung Büroarbeiten erledigen muss. In dieser Zeit wird sie schwanger.

Vor den Toren Berlins glaubt die Familie sich in Sicherheit

Sie wird nach Berlin zurückversetzt und übernimmt Verwaltungsarbeiten in einer militärischen Dienststelle. Die Luftangriffe auf Berlin nehmen zu. Käthe Kuhnert bekommt Angst, Angst um ihr Ungeborenes, und will weg aus Berlin. So kündigt sie.

Sie kommt nach Königsee in Thüringen, wo sie im August 1944 in einer Klinik ihren Sohn Bernd zur Welt bringt. Sie ist ganz allein. Doch einige Zeit nach der Niederkunft kommen Mutter und Tante angereist und holen Käthe und Sohn Bernd zurück.

Ihre Eltern besitzen eine Gartenlaube in Senzig bei Königs Wusterhausen. Dort zieht die kleine Familie Ende März 1945 hin. Sie glauben sich südlich vor den Toren Berlins sicherer als in Johannisthal, da dort der ständige Fliegeralarm unerträglich geworden ist.

Doch bald merken sie, dass sie die Kriegslage falsch eingeschätzt haben. „Vom Fenster der Gartenlaube aus konnten wir die Flüchtlingstrecks aus den ostdeutschen Gebieten sehen und beobachten, wie die Schützengräben ausgehoben wurden“, erzählt Frau Kuhnert. Die russischen Truppen rücken näher an Senzig heran, die Schießereien werden heftiger. Familie Kuhnert sucht immer häufiger Schutz bei den Nachbarn, die in einem festen Steinhaus mit Keller wohnen.

Am 26. April geraten in Senzig Wehrmacht und SS unter stärksten Beschuss der sowjetischen Truppen. Im Trommelfeuer der Geschütze wird der Vater schwer verletzt: Durch einen Granatsplitter verliert er ein Auge, weitere Splitter treffen ihn in Oberschenkel und Arm. Auch die Mutter wird verwundet, Käthe bleibt unverletzt.

Kuhnert bewirbt sich als Zeitungszustellerin

Als die Russen in Senzig einmarschieren und in die Häuser eindringen, finden sie den Vater blutüberströmt im Keller des Nachbarn. Sie lassen ihn unbehelligt und gestatten, dass der Schwerverletzte im Bollerwagen liegend ins sechs Kilometer entfernte Krankenhaus in Königs Wusterhausen gezogen wird.

Während der Vater im Krankenhaus bleibt, kehren Mutter, Tochter und Baby Bernd in die Johannisthaler Stadtwohnung zurück. Dort sind sie gemeldet, dort müssen sie den Antrag auf Lebensmittelkarten stellen.

Kuhnerts ganze Fürsorge gilt ihrem kleinen Sohn. So vergehen Frühjahr und Sommer, Berlin liegt in Trümmern. Der Herbst beginnt und bringt Erfreuliches: Am 27. September erscheint die erste Ausgabe des Tagesspiegels, Umfang: vier Seiten, Auflage: 200.000 Exemplare. „Ich erfuhr eines Tages, dass Zeitungszusteller gesucht wurden, und bewarb mich. Im Dezember 1945 begann ich mit dem Zeitungsaustragen in Johannisthal – für sechs Reichsmark im Monat.“

„Johannisthal war eher ländlich und nicht so zerbombt wie die Berliner Innenstadt, da gab es schon zahlreiche Abonnenten. Die Zeitungen wurden auch nicht so früh ausgetragen wie heute. Sie waren dünn, und ich konnte sie alle in meiner großen Umhängetasche unterbringen. Briefkästen unten im Hausflur gab es kaum, ich musste fast in jedem Haus die Treppen hochlaufen und sie durch den Schlitz stecken oder an die Türklinke klemmen. Davon wurde mir warm, und ich spürte die eisige Kälte des strengen Winters 1945/46 nicht so sehr.“

Eines Tages wird sie vom Tagesspiegel-Vertriebsleiter („Herr Hinz, ein gutaussehender Mann, in den alle Frauen verliebt waren“) gefragt, ob sie nicht in der Filiale in Johannisthal arbeiten wolle. „Klar wollte ich das. Erfahrungen mit Büroarbeit hatte ich ja genug“, sagt Käthe Kuhnert.

Als die Sowjetunion 1948 die Berlin-Blockade verhängt, wird es auch für die Tagesspiegel-Mitarbeiter gefährlich. Johannisthal liegt in der sowjetischen Besatzungszone, eines Tages wird Kuhnert auf eine russische Kommandantur bestellt.

„Man wollte mich über Tagesspiegel-Interna ausfragen“

„Man wollte mich über Tagesspiegel-Interna ausfragen“, berichtet Frau Kuhnert. „Ich ließ mich nicht aushorchen, gab mich ahnungslos und uninteressiert. An der Zeitung reize mich nur der täglich erscheinende Fortsetzungsroman, von Politik verstünde ich nichts.“

Frau Kuhnert lässt den Zeitungsgründer Erik Reger über den Vorfall informieren, der beschwert sich bei den verantwortlichen Sowjets. Als die Tagesspiegel-Filialen im Ostteil der Stadt geschlossen werden, kommt es zu einem Tausch: Sie wird aus Johannisthal in eine Filiale in Kreuzberg versetzt, dafür geht ein anderer Mitarbeiter freiwillig nach Ost-Berlin.

„Die Arbeit hat mir Spaß gemacht. Immer war was los. Wir waren ein kleines Team und betreuten die Abonnenten und die Zeitungszusteller, nahmen Anzeigen entgegen und besänftigten die Kunden, wenn mal was nicht geklappt hat. Und manchmal, wenn Zusteller ausfielen, trug ich vor Arbeitsbeginn die Zeitungen aus – unentgeltlich.“

Die Arbeit gefällt ihr so gut, dass sie von zu Hause auszieht und die kleine Ladenwohnung in den hinteren Räumen der Kreuzberger Filiale in der Dresdener Straße bezieht. Ihr Sohn bleibt bei den Großeltern in Johannisthal, er geht dort zur Schule. Nach der Mittelschule stellt die Familie für ihn einen Ausreiseantrag, dem schnell stattgegeben wird. Die Großeltern sind alt und kränklich geworden.

Frau Kuhnert hat inzwischen ihre Ladenwohnung aufgegeben und in einer Sechseinhalbzimmerwohnung in Dahlem ein Leerzimmer bezogen. Sie arbeitet jetzt in der Filiale in Lichterfelde-West, ihr Sohn zieht zu ihr.

Der Mauerbau im August 1961 trifft die Familie hart. Plötzlich kann Kuhnert ihre Eltern nicht mehr besuchen. Im Herbst 1961 wird ihr Vater krank, die Mutter stirbt überraschend im Dezember 1961, der Vater 1962. Käthe und Bernd dürfen nicht zur Beerdigung fahren.

Als Buchhalterin zum Tagesspiegel

Etwa um das 50. Lebensjahr will Kuhnert es noch einmal wissen: Sie bewirbt sich um eine Stelle in der Buchhaltung des Tagesspiegels, der inzwischen im Verlagsgebäude an der Potsdamer Straße untergebracht ist. Und sie wird genommen.

„Sie können sich gar nicht vorstellen, was sich da immer abgespielt hat“, sagt Kuhnert und lacht. „Noch bis Mitte der 1970er-Jahre wurden Lohn und Gehalt bar ausgezahlt.“ Und so steht jedes Mal zum Monatsende eine riesige Menschenmenge vor dem Lohnbüro. Punkt 14 Uhr wird die Tür geöffnet, die Arbeiter und Angestellten drängen in das kleine Zimmer, um sich ihr Geld abzuholen.

Fein säuberlich in einer Tüte steckt das Geld, ein mit der Hand ausgefüllter Lohnstreifen liegt bei. Überhaupt wird damals noch fast alles mit der Hand gemacht. Es gibt zwar Rechenmaschinen, aber alles Andere wird handschriftlich in großen Journalen vermerkt: Stundenzahl, Überstunden, Sozialabgaben, Lohnsteuer, Kirchensteuer.

„Vom vielen Schreiben mit der Hand tat mir manchmal der Arm weh. Aber so lernte ich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Tagesspiegels kennen. Sie standen ja alle jeden Monat vor unserer Tür“, sagt Frau Kuhnert.

1979 ist Schluss mit dem Berufsleben, sie geht in Rente, mit 60 Jahren. Und genießt nun seit fast 40 Jahren ihr Rentnerdasein. Die einst kleine Familie ist erheblich gewachsen, es gibt zahlreiche Enkel und Urenkel, die sie alle lieben. Gesundheitlich hat sie in den letzten 15 Jahren einiges durchmachen müssen, aber mit der ihr eigenen Energie und Zähigkeit ist sie immer wieder fit geworden. „Da muss man jetzt durch“, das war und ist ihr Lebensmotto.

„Gedächtnistraining und Gymnastik machen mir Spaß“, erzählt Kuhnert. „Und dann lese ich jeden Tag meinen Tagesspiegel. Der Tagesspiegel war einfach mein Leben. Hoffentlich gibt es ihn noch sehr lange, das wünsche ich mir.“

Gitta Schlusche

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