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Andrew Ranicki, der Sohn von Marcel Reich-Ranicki, bei der Lesung aus "Meine Geschichte der deutsche Literatur" im Literaturhaus Berlin.

© Markus Hesselmann

Andrew Ranicki über seinen Vater Marcel Reich-Ranicki: „Hier in Berlin, das er ungeachtet aller Widrigkeiten so liebte“

Zur Enthüllung der Berliner Gedenktafel für Marcel Reich-Ranicki 2014 in der Güntzelstraße 53 in Wilmersdorf hielt sein Sohn Andrew Ranicki eine Rede, die wir hier im Wortlaut dokumentieren.

Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, lieber Hellmuth, liebe Gäste

Ich wusste eigentlich schon immer, dass mein Vater hier mit seinen Eltern gewohnt hat, was nachher passiert ist, und was meinem Vater Berlin bedeutete. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin. 1964, vor 50 Jahren, wohnten meine Eltern und ich in Hamburg. Meine Mutter und ich kamen für einen Wochenendausflug nach West-Berlin. Mein Vater blieb zu Hause, um zu arbeiten, aber er hat uns gebeten, hier vorbeizuschauen, und uns genau erklärt wo die Güntzelstrasse war.

Marcel Reich-Ranicki bei seinem Berlin-Besuch 199 auf einem Balkon in seinem Wohnhaus von 1934 bis 1938 in der Güntzelstraße in Wilmersdorf.

© FAZ-Foto/Frank Röth

Mein Vater war sowieso oft in Berlin. Der wohl wichtigste Besuch war für ihn die Bundestagsrede zum Holocaustgedenktag in Januar 2012. 1999 war er in Berlin mit dem jüngst verstorbenen Frank Schirrmacher, der einen schönen Bericht darüber in der "FAZ" geschrieben hat.

Klaus Wowereit, Hellmuth Karasek, Andrew Ranicki vor der Gedenktafel-Enthüllung.

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Mein Vater hat sich selber nicht bemüht um die Stolpersteine für die Eltern, und selbstverständlich noch weniger um eine Gedenktafel für sich selbst. Anstelle eines Denkmals aus Stein oder Messing hat er seinen Eltern ein literarisches Denkmal aus Wörtern gesetzt, das vielleicht noch dauerhafter sein wird: in der 1999 erschienenen Autobiografie "Mein Leben". Auch ich fand es sehr lehrreich, und ich habe sehr viel über sein Leben und das Leben und den Tod seiner Eltern dort erfahren.

Andrew Ranicki und Christiane Timper ein, Bezirksverordnete und Mitglied der Gedenktafelkommission in Charlottenburg-Wilmersdorf.

© Markus Hesselmann

Es spielte sich zum Beispiel seine erste tiefere Beziehung zu einer Frau hier ab, mit der Untermieterin Lotte. Hier auf diesem blumenbeschmückten Balkon hat er seinen ersten Kuss empfangen. „Das war gar nicht so schlecht, mein Lieber“, sagte er, als müsse auch dieser Kuss aus der Vergangenheit noch rezensiert werden, schrieb Schirrmacher. Vielleicht wird dieser Balkon nicht ganz so berühmt wie der Romeo/Julia Balkon in Verona, aber dennoch in die Literaturgeschichte eingehen.

Wie kam es zur Verkoppelung der Gedenktafel und der Stolpersteine? Im Februar habe ich im Internet einen Bericht von Markus Hesselmann im "Tagesspiegel" gelesen: "Anruf beim Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Gedenktafelkommission: „Guten Tag, ich bin vom Tagesspiegel und wollte fragen, ob eigentlich eine Gedenktafel für Marcel Reich-Ranicki an dessen einstigem Wohnhaus in der Güntzelstraße geplant ist.“ – „Gute Idee", sagt die freundliche Frau von der Gedenktafelkommission, "wollen sie eine beantragen?“ – „Aha, öhm, nein, ich bin Journalist, ich beantrage nichts, ich berichte nur.“ – „Okay, dann werde ich das selbst vorschlagen und wir sprechen gleich in unserer nächsten Sitzung darüber."

Herr Hesselmann ist heute hier, und auch Frau Christiane Timper vom Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Es stellte sich dann heraus, dass das Aktive Museum schon einen Antrag für eine Gedenktafel für meinen Vater gestellt hatte. (Christine Fischer-Defoy vom Aktiven Museum ist heute auch hier). Und dann kam mir noch der Gedanke, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, die Stolpersteine zu beantragen. Und so ist diese Verkoppelung zustande gekommen.

Ich danke allen, die dabei geholfen haben, besonders Frau Fischer-Defoy vom Aktiven Museum und Herrn Helmut Lölhöffel und Herrn Gunter Demnig von den Stolpersteinen.

Mein Vater hätte eine ungeteilte Freude an der Gedenktafel gehabt, weil sie einfach sein Leben und Wirken ehrt, hier in Berlin, das er ungeachtet aller Widrigkeiten so liebte. Mit den Stolpersteinen ist es etwas heikler. Er wusste sehr wohl, was Stolpersteine sind, denn in Frankfurt bei uns in der Nähe sind wir täglich an welchen vorbeigegangen. Aber es kam mir nicht in den Sinn, ihn zu fragen ob wir uns um Stolpersteine für seine Eltern kümmern sollten.

Ich bin ziemlich sicher, dass er die gleiche Haltung hätte wie vor 20 Jahren zum Holocaust-Mahnmal hier in Berlin. "Ich war und bin nicht dagegen, und ich bin nicht dafür. Ich benötige es nicht, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und meine vielen ebenfalls ermordeten Verwandten brauchen es erst recht nicht. Ich habe mich in dieser Sache mit keinem einzigen Wort geäußert." Das gilt sicher für ihn. Aber ich habe die Stolpersteine hier angeregt nicht für ihn, sondern für mich selbst, und für die nachfolgenden Generationen meiner Familie.

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