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Blick zurück: Marcel Reich-Ranicki 1999 bei einem Berlin-Besuch auf einem Balkon in seinem Wohnhaus von 1934 bis 1938 in der Güntzelstraße 53 in Wilmersdorf.

© FAZ-Foto/Frank Röth

Marcel Reich-Ranicki und Berlin: „Ich habe hier mal gewohnt“

Marcel Reich-Ranicki besuchte 1999 das Haus in Berlin-Wilmersdorf, in dem er bis zu seiner Deportation durch die Nazis 1938 gelebt hatte.

Von Markus Hesselmann

Für einen Moment war er ganz für sich, mit seinen Gedanken allein. Marcel Reich-Ranicki stand auf dem Balkon im vierten Stock, stützte sich auf die Brüstung und blickte über die Dächer. Er verband viele Erinnerungen mit diesem Haus, mit dieser Straße, mit diesem Kiez. Erinnerungen an seine Eltern, mit denen er hier von 1934 bis 1938 gelebt hatte und die von den Nazis ermordet wurden. An seine damalige Hinwendung zur deutschen Kultur, vor allem zur Literatur. Und an die Liebe, an seinen ersten Kuss, auch auf einem Balkon, hier in der Güntzelstraße 53.

An dem Haus in dem Wilmersdorfer Kiez wurde ein Jahr nach seinem Tod eine Gedenktafel für den Literaturkritiker enthüllt. Klaus Wowereit sprach, ebenso Hellmuth Karasek, Reich-Ranickis langjähriger Partner im „Literarischen Quartett", und Andrew Ranicki, der inzwischen verstorbene Sohn Marcel Reich-Ranickis.

Klaus Wowereit, Hellmuth Karasek und Andrew Ranicki vor der Enthüllung der Gedenktafel für Marcel Reich-Ranicki.

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Auch Ingrid M. war dabei. Sie wohnt in der Güntzelstraße 53 und hatte Marcel Reich-Ranicki, als er 1999 sein altes Wohnhaus in Berlin besuchte, bei sich zu Gast. Auf ihrem Balkon entstand das Erinnerungsbild, das er ihnen schenkte. „Es war ein sehr besinnlicher Moment“, sagt sie.

Schon auf dem Sprung war sie damals. Als sie aus der Haustür kam, sah sie den berühmten Mann auf dem Bürgersteig stehen und sprach ihn an. „Herr Reich-Ranicki, was machen Sie denn hier?“, sagte Ingrid M. „Man glaubt ja bei bekannten Menschen, dass sie einen auch kennen müssten“, sagt sie heute und lacht. „Ich habe hier mal gewohnt“, antwortete Reich-Ranicki.

Er hatte im dritten Stock geklingelt, an der Wohnung gleich unter der von Ingrid M. Dort war niemand zu Hause. Es war ein spontaner Besuch, unangemeldet. So konnte der Gast aus einer anderen Zeit sich jene Wohnung nicht noch einmal ansehen, in der er gelebt hatte.

In seiner Autobiografie „Mein Leben“ beschreibt Marcel Reich-Ranicki, Jahrgang 1920, wie er mit einer Untermieterin, der Fotografin Lotte, in der Güntzelstraße 53 Balkongespräche über Liebe und Literatur führte. Wie sie, die „Arierin“, kein Problem damit hatte, mit ihm, dem Juden, derart vertraut umzugehen. Und wie sie dann doch auszog, weil sie eine „nachdrückliche Warnung“ bekommen hatte.

Ingrid M. lud Marcel Reich-Ranicki in ihre Wohnung ein, einen Stock höher. Schließlich sei die ganz ähnlich geschnitten, man könne einen Eindruck bekommen. Und einen Blick vom Balkon werfen. Reich-Ranicki zeigte seinen Gastgebern und seinem Begleiter Frank Schirrmacher, dem inzwischen verstorbenen Herausgeber der „FAZ“, anhand des Grundrisses, wo sich sein Zimmer damals befunden hatte.

Ansonsten machte er, der Literaturkritiker von der „FAZ“ und vom Fernsehen, der sonst viel und auch gern mal groß sprach, in diesen Momenten der Erinnerung nicht viele Worte. „Er war ruhig, höflich und zurückhaltend“, sagt Ingrid M. über ihren Besucher.

Marcel Reich-Ranicki mit Ingrid M., die den Gast aus einer anderen Zeit in ihrer Wohnung empfing. Rechts im Bild eine Freundin von Ingrid M.

© FAZ-Foto/Frank Röth

Sie interessiert sich für die Historie ihres Hauses. Einen Stolperstein, der vor dem Eingang liegt, hat sie mit erwirkt. Er erinnert an Erna Hirsch, die 1942 deportiert und in Sobibor ermordet wurde.

Ohnehin ist die Güntzelstraße eine Straße der Stolpersteine. In den Bürgersteig vor dem Haus Nummer 49 sind 23 dieser kleinen Denkmäler eingelassen. Zwei davon erinnern an Charlotte und Max Auerbach, die Eltern des britischen Malers Frank Auerbach, Marcel Reich-Ranickis Cousin, der mit einem Kindertransport nach England entkam. Allein aus Charlottenburg und Wilmersdorf wurden 13.200 Juden deportiert und ermordet.

Bei den Forschungen für den Stolperstein war Ingrid M. durch einen Telefonbucheintrag aus den Dreißigerjahren auch auf Helene und David Reich aufmerksam geworden. Mit Marcel Reich-Ranicki hatte sie die beiden Namen zunächst nicht in Verbindung gebracht. Die Stolpersteine für dessen Eltern, seine Großeltern, ließ Andrew Ranicki durch den Künstler Gunter Demnig verlegen.

Andrew Ranicki mit Mutter Tosia und Vater Marcel, 1957 in Warschau.

© Dorys

Auch bei der Enthüllung der Gedenktafel wurde im Beisein Andrew Ranickis an Helene und David Reich erinnert. Marcel Reich-Ranicki überlebte nach seiner Deportation 1938 nach Polen und später ins Warschauer Ghetto mit Glück, seine Eltern wurden 1942 in Treblinka ermordet. „Meine Großeltern haben kein Grab“, sagte Andrew Ranicki, der die Erinnerung an seinen Vater, dessen Eltern und seine Mutter Tosia pflegte.

Und das literarische Erbe: Im Literaturhaus Berlin stellte Andrew Ranicki ein Buch vor, das unter dem Titel „Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur“ Essays des Vaters versammelt, herausgegeben vom Nachlassverwalter Thomas Anz.

Daraus nun las Andrew Ranicki: „Man nannte ihn den schädlichsten und gefährlichsten, den boshaftesten und eitelsten aller Kritiker.“ Seinen Anhängern aber „galt er als der originellste und sprachmächtigste, der witzigste und geistreichste Theaterrezensent seiner Epoche“. Und weiter: „Ob es die einen missbilligten oder die anderen befürworteten – alle wussten, dass es noch nie in Deutschland einen Kritiker von vergleichbarem Einfluss gegeben hatte.“

Diese Zeilen hätten fast eine Selbstbeschreibung seines Vaters sein können, sagte Andrew Ranicki. Tatsächlich aber stehen sie im Kapitel über Alfred Kerr, den großen Berliner Kritiker. „Ich denke an Alfred Kerr mit großer Dankbarkeit“, schreibt Marcel Reich-Ranicki. „Mein Vorbild war er nie, aber ich habe von ihm – ähnlich wie von Alfred Polgar und Kurt Tucholsky – viel, sehr viel gelernt.“

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