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In der City West hat sich Gerhard Finke nach seinem Umzug im vergangenen Jahr gut eingelebt.

© Kai-Uwe Heinrich

Maler Gerhard Finke: Der alte Mann und die Bilder

Gerhard Finke ist 98 Jahre alt. Fast sein ganzes Leben lang hat er gemalt, mehr als 8000 Bilder. Doch sein Blick geht nach vorn. Ein Besuch in Halensee.

Gerhard Finke ist kein Freund der Vergangenheit. „Ich lebe vom Heute und vielleicht von den Gedanken an morgen. Aber die Vergangenheit lasse ich ruhen“, sagt der 98-Jährige – er klingt fast ein wenig ungeduldig. Der Maler sitzt bei seinem Stammitaliener im Charlottenburg-Wilmersdorfer Ortsteil Halensee, vor ihm eine Apfelschorle. Seine gedanklichen Reisen zurück seien wohlgeordnet, sprunghafte Expeditionen in seine Vergangenheit erlaube er sich nicht. Finke beugt sich nach vorn, sein Blick ist fest. „Ich habe so viel erlebt in meinem Leben. Würde ich mich an alles erinnern, ich würde ja kirre.“

Und so kann er sich wohl auch nicht an jedes der Bilder erinnern, die er in seinem Leben gemalt hat. Aber mit Finke ist im vergangenen Jahr in der Joachim-Friedrich-Straße ein Künstler eingezogen, dessen Vermächtnis über 8000 Werke umfasst – und immer noch wächst.

Das erste Bild mit 11 Jahren

Sein erstes Bild schuf Finke bereits mit elf Jahren – es war ein Selbstporträt. Finke wurde 1917 in Beeskow in der Mark Brandenburg geboren, wuchs aber in Berlin auf. Der Zweite Weltkrieg unterbrach sein künstlerisches Schaffen, 1945 begann er ein Kunststudium in Düsseldorf. Später lebte er in Portugal und lange Zeit in der niederrheinischen Stadt Wesel, in deren Besitz sich ein Großteil seiner Werke befindet. Wer den Katalog der Sammlung durchblättert, sieht Ölgemälde und bunte Aquarelle ebenso wie blasse Zeichnungen. „Ich war nie genial, aber ich war fleißig“, sagt Finke mit einem spitzbübischen Grinsen.

Viele Jahre hat Finke am Niederrhein gewohnt, doch irgendwann hatte er dort keinen bekannten Menschen mehr. Einer nach dem anderen war gestorben. Nach dem schmerzlichen Verlust seiner großen Liebe Gretel hatte Finke zwar mit 90 Jahren noch einmal eine Frau kennengelernt – „seine späte Liebe“ nennt er sie. Aber auch sie starb im Alter von 95 Jahren, nur wenige Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten. Und so zog Finke mit fast 100 noch einmal um, nach Berlin, um näher bei seinem Sohn zu sein.

Gerhard Finke mit einer seiner neuesten Zeichnungen.

© Kai-Uwe Heinrich

Finke hat sich mit seiner neuen Wohnung angefreundet – im Wohnzimmer hängt ein mit bunten Ölfarben gemaltes Porträt von Gretel. Mit ruhigem Blick schaut sie in den Raum hinab. Auf dem Küchentisch liegen Zeichnungen, Papier und Stifte verteilt. Viel braucht Finke nicht mehr. „Meinen Kiez“, wie er die Joachim-Friedrich-Straße nennt, hat er im vergangenen Jahr vielleicht zwei, drei Mal verlassen. „Typisch kleinbürgerlich Berlin“, findet Finke.

Ausflug nach Neukölln

An sozialem Kontakt mangelt es ihm trotzdem nicht. Als Finke in seine Wohnung einzog und mit knurrendem Magen aus dem Fenster sah, fiel sein Blick auf die blaue Markise des Restaurants gegenüber. Er machte sich auf den Weg, die Treppe hinunter und über die Straße – da stand Tanino vor der Tür. Der alte sizilianische Fischer betreibt das Lokal. Finke sagte „Guten Tag“, Tanino erwiderte den Gruß. Eine Weile standen sie dann draußen und schwiegen. Am Ende befand Tanino: „Wir kennen uns eigentlich schon seit 50 Jahren.“ Damit war alles gesagt.

Seitdem kommt Finke an jedem einzelnen Tag mittags und abends zu Tanino zum Essen, die beiden verstehen sich ohne viele Worte. Und mittlerweile kennen auch die Restaurantgäste Finke. Ab und an kommt jemand, um ihn zu begrüßen oder einen Plausch zu halten.

Einmal hat Finke in den letzten Monaten seinen Kiez verlassen und mit seinem Sohn einen Ausflug nach Neukölln gemacht. Das muss eine dieser geordneten Reisen in die Vergangenheit gewesen sein, denn hier in Neukölln ist Finke aufgewachsen. Kleinbürgerlich sei er erzogen worden und preußisch. „Ordnung, Treue, Pflicht und Wahrheit“, die vier Substantive, die seine Kindheit bestimmten. Heute finde er das langweilig.

Brennholz für Kartoffelschalen

Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, ging es in Neukölln noch dörflich zu. Am Richardplatz wohnte ein Schmied, der den Pferden die Hufe beschlug. Finke selbst lebte mit seinen Eltern in einem Mietshaus; im Parterre war ein Stall, dort gab es frische Milch zu kaufen. Durch die Straßen fuhr ein Mann, der gegen einen Haufen Kartoffelschalen ein Bündelchen Brennholz bot. An den Ruf kann sich Finke noch genau erinnern: „Brennholz für Kartoffelschalen!“

Aber genug von diesen Erzählungen, findet Finke, es geht schließlich ums Hier und Jetzt. Auf dem Boden in seinem Wohnzimmer liegen drei riesige Zeichnungen. Finke hat sie mit einer neuen Technik erstellt. Auf einem kleinen Bogen Papier hat er eine Vorzeichnung gemacht und diese dann auf die großen Bögen abziehen lassen.

Bunte Bilder für die Liebe

Mit schwarzen Strichen hat er diese dann zu einem neuen Kunstwerk ergänzt. Besonders ein Motiv scheint es ihm angetan zu haben, auch in der Küche ist es auf kleineren Zeichnungen immer wieder zu sehen: das Gesicht einer Frau, ganz nah, mit traurigen Augen, eingerahmt von Ästen.

Aber warum nur noch Schwarz-Weiß und keine Farbe mehr? „Ich male nicht mehr, ich zeichne nur noch“, sagt Finke. „Zeichnen ist rational, es kommt aus dem Kopf. Malen kommt aus dem Körper, aus dem Herzen. In meinem Alter ist das zu anstrengend.“ Als er verliebt war, in seiner späten Liebe schwelgte, da hat er noch einmal bunt und strahlend gemalt. Aber das ist vorbei. Auf seine neuen Zeichnungen ist Finke trotzdem ein bisschen stolz. Er würde sie auch gerne ausstellen. Vielleicht zum 100. Geburtstag? Finke grinst. Ja, das wäre was.

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