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Berlin: Bitte flanieren!

Er ließ die Idealform des Schlenderns wieder aufleben: Schriftsteller Franz Hessel. Seine große Liebe gehörte zwei Städten: Berlin und Paris

Machen wir uns nichts vor. Die Idealform des Flaneurs werden wir nie wieder erreichen. Seine Blütezeit lag etwa um 1840. Damals, so schreibt Walter Benjamin, gehörte es in Paris „vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen“. Dagegen spräche heutzutage schon der Artenschutz.

Ohnehin scheint unsicher, ob der Berliner für das Flanieren – die kontemplativste Möglichkeit, sich durch seine Stadt zu bewegen – überhaupt geeignet ist. Kurt Tucholsky spricht ihm das 1919 noch ab, in einer Betrachtung, die in den heutigen Zeiten des Auf- und Umbruchs wieder sehr modern wirkt: „Der Berliner hat keine Zeit … Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun.“

Immerhin stimmt es zuversichtlich, dass genau zehn Jahre später der zwischen Berlin und Paris pendelnde Schriftsteller Franz Hessel sein Buch „Spazieren in Berlin“ herausbringt, das Benjamin geradezu als „Die Wiederkehr des Flaneurs“ feiert. Es gilt noch immer als eines der Hauptwerke Hessels, der nicht allein durch sein Schreiben, sondern ebenso durch sein ungewöhnliches Liebesleben in Erinnerung geblieben ist: Hessel war das Vorbild zu „Jules“ in dem von François Truffaut verfilmten Roman „Jules et Jim“. Der Schriftsteller Henri-Pierre Roché beschrieb darin die Menage à trois, die sich in Paris vor dem Ersten Weltkrieg zwischen ihm, seinem Freund Franz Hessel und dessen Frau Helen entwickelt hatte und die auch den Hintergrund zu Hessels „Pariser Romanze“ bildete.

Die Liebe zu Paris – Geburtsstätte des Flanierens und für Hessel zweite Wahlheimat – erklärt gewiss teilweise seine Affinität zu diesem besonderen Typus des Schlenderns. Flaneur wird man nicht aus heiterem Himmel. Man hat Vorgänger. In Berlin E.T.A. Hoffmann zum Beispiel – der sich 1822, kurz vor seinem Tode und schon fast gelähmt, am Gendarmenmarkt aus „Des Vetters Eckfenster“ lehnt und das Gewimmel des Wochenmarktes als Panorama der Berliner Gesellschaft deutet. Ein Soziologe des Alltags mit jenem poetisch-analysierenden Blick des Flaneurs. Auch wenn er am entspannten Spazieren nicht nur durch seine Gebrechlichkeit gehindert wird. Denn schließlich ist das Flanieren nichts ohne bequeme, breite Trottoirs und Passagen. Doch auf die wird der Berliner zu dieser Zeit noch ein halbes Jahrhundert warten müssen.

Paris ist da weit voraus. Im Second Empire Napoleons III. wird es unter der Leitung des Barons Haussmann umgepflügt und von gewaltigen Boulevards durchschnitten. Auf denen ergehen sich nun Leute wie Charles Baudelaire, der für Walter Benjamin die Inkarnation des Flaneurs ist. Gemächlich und mit skeptischem Blick durchstreift er seine Stadt, scheinbar dem Müßiggang ergeben, in Wahrheit aufmerksamer Beobachter der Gesellschaft und ihrer Wandlungen, ihrer Geheimnisse hinter der mal imponierenden, mal schillernden, mal schäbigen Oberfläche, die der Tourist auf Stadtrundfahrt niemals ergründen wird. Jemand wie Franz Hessel, der sich freiwillig einmal in die Touristenrolle begeben und so eine Busfahrt mitgemacht hat – „Rundfahrt“ heißt der längste Text in Hessels „Spazieren in Berlin“ – möchte dann am liebsten schnell wieder aussteigen, um die geliebte Stadt erneut auf eigene Faust zu durchstreifen. In der Menge, und doch von ihr getrennt.

Es war keine Liebe von Geburt. Franz Hessel stammte aus Stettin, am 21. November 1880 geboren als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, der 1888 nach Berlin wechselte, um sich hier als Bankier zu versuchen. Kurz nach dem Jahrhundertwechsel begann Hessel in München – nicht besonders ernsthaft – zu studieren und fand Anschluss an die Schwabinger Boheme. 1905 erschien bei S. Fischer in Berlin sein erster Gedichtband. Ein Jahr später zog er nach Paris.

Berlin und Paris sollten die zentralen Orte seines Lebens bleiben, gleichwertige Stätten des Flanierens. In der Stadt an der Spree erreichte Hessels literarisches Schaffen während der Weimarer Jahre seinen Höhepunkt. Er war Autor, Übersetzer und Lektor bei Rowohlt, der ihn auch nach 1933, als er von den Nazis mit Schreibverbot belegt war, heimlich noch weiterbeschäftigte. Erst 1938 floh Hessel nach Paris, wurde nach Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ interniert – und starb am 6. Januar 1941 an den Folgen der Haft.

Im Nachkriegsdeutschland geriet Hessels Werk weitgehend in Vergessenheit, wurde sein „Bitte flaniere!“, das er einst den Berlinerinnen zugerufen hatte, nicht länger beachtet. In den achtziger Jahren aber gab es Neuauflagen, 1998 auch eine Ausstellung im Literaturhaus Berlin. Man erinnerte sich an den Ehrentitel „Flaneur“, den ihm einst Benjamin in seiner Rezension von „Spazieren in Berlin“ verliehen hatte und der in unseren Tagen beispielsweise auch dem jüngst verstorbenen Heinz Knobloch zugesprochen wurde.

Es lässt sich von Leuten wie Hessel so manches lernen über die Art, sich in der eigenen Stadt zu bewegen, sie auf „kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls“ zu durchstreifen, offen für Neues wie Vertrautes. Zwar wurde Hessels Berlin in den Zeitläuften weitgehend zerstört, und seine Erkenntnis, dass in Berlin die Seele „im Hinterhaus vier Treppen hoch“ wohne, stimmt vielleicht nicht mehr. Aber sein Loblied auf das Flanieren gilt noch immer, als „eine Art Lektüre der Stadt, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben“.

Und gerade in einer Stadt wie Berlin, die soeben mal wieder komplett umgekrempelt wird, sollte man auf Hessels fast 75 Jahre alte Ermahnung hören, mit der sein „Spazieren in Berlin“ endet: „Wir Berliner müssen unsere Stadt noch viel mehr – bewohnen … Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang und Genuss lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigen, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.“

Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ gibt es unter dem Titel „Ein Flaneur in Berlin“ im Berliner Verlag Das Arsenal, ergänzt mit 30 zeitgenössischen Fotografien von Friedrich Seidenstücker (280 Seiten, 18 Euro). Der Verlag hat Weiteres von und über Hessel im Programm, darunter „Ermunterung zum Genuss“, „Teigwaren leicht gefärbt“ und „Nachfeier“.

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