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Berlin: Blick ins Herz

Wie sehen Fremde Berlin? Weißenseer Studenten probierten es aus – mit wachem Blick auf die Bezirke

Berlin ist günstig und bietet Platz für Künstler und Kreative. Von diesem Gerücht hatte Helen Carnac gehört, bevor sie im April dieses Jahres nach Berlin kam, um an der Kunsthochschule Weißensee ein Semester lang als Gastprofessorin zu unterrichten. Doch kurz nach ihrer Ankunft bemerkte die Londonerin, dass dieses Klischee längst überholt ist – zumindest, wenn man, wie sie während ihres Aufenthalts, im östlichen Zentrum der Stadt wohnt. „Das traf vielleicht auf die Zeit kurz nach der Wende zu, heute gilt es längst nicht mehr.“

Die Teilnehmer ihres Seminars „A Shared View“ konnten dies bestätigen. Ihre Aufgabe war es, in Exkursionen einen Blick auf verschiedene Bezirke zu werfen, sie aus diversen Perspektiven zu erkunden, Besonderheiten zu ergründen. Die sieben Teilnehmer kamen aus unterschiedlichen Ländern: Frankreich, Schweden, Italien, Japan, Österreich und Deutschland. „Ein Vorteil, so hatte jeder andere Vergleichsmöglichkeiten“, sagt Carnac, die ähnliche Kurse bereits in Moskau, Antwerpen und Seattle gegeben hat.

Ausgangspunkt für die Exkursionen durch Berlin war das Haus der Kulturen der Welt, von dort ging es östlich bis nach Karlshorst, immer entlang der Spree, so weit wie möglich. „Der Fluss ist für uns die Herzschlagader der Stadt. Wir haben sie verfolgt, um ein Gefühl für Berliner Bezirke zu bekommen“, sagt Carnac. Zwei Tage dauerte die erste Tour, bei der hunderte Fotos entstanden, die im Oktober als Buch veröffentlicht werden sollen.

Danach suchten sich die Studenten selbst Orte aus, die sie erkundenswert fanden: Häuser, Plätze, Kieze, Parks. Im Fokus immer die Frage: Wie nutzen die Berliner ihre Stadt? Christine Hausen etwa hat Menschen in den Parks entlang der Straßenbahnlinie M 10 befragt, in Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg. Fazit der gebürtigen Berlinerin: Die Grünanlagen sind bei den Besuchern nicht nur der Ruhe und Erholung wegen beliebt, sie dienen als sozialer Raum, als Treffpunkt. Eine Besonderheit, die auch Helen Carnac aufgefallen ist: In London mangele es an öffentlichen Begegnungsorten, an Plätzen des Austausches und Innenhaltens. Ein Plus für Berlin also.

Eine weitere Besonderheit, die den Seminarteilnehmern an der deutschen Hauptstadt auffiel: ausgeprägte Kiez- und Nachbarschaftsstrukturen, die der anonymen Großstadt ein Gesicht verleihen, Gegenden wie „Kreuzkölln“, wo junge Menschen anzutreffen sind. Wo es viele Cafés gibt, in denen Menschen an ihren Laptops sitzen. Wo sich Leben und Arbeiten vermischen, das Alltagsgefühl ein sehr entspanntes ist. London dagegen habe einen anderen Lebensrhythmus, einen schnelleren Takt, sagt Carnac.

Julia Dalgren, Erasmus-Studentin aus Stockholm, sind vor allem die Spuren des alltäglichen Lebens im Berliner Stadtbild aufgefallen. Der viele Müll auf den Straßen, ausrangierte Möbel, die von ihren Besitzern einfach vor den Hauseingängen abgestellt werden, Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Im Park am Weißensee fand Dalgren zum Beispiel DDR-Fotopapier. Sie fertigte daraus eine Laterne, die sie in der Nähe des Sees aufstellte, um zu gucken, wie Passanten darauf reagierten. Eine Weile blieb das Kunstobjekt unbeachtet, wenig später war es weg – geklaut.

Kommilitonin Carmen Panizzo aus Venedig faszinierten die vielen „Ruinen und leer stehenden Gebäude“ – das Kinderkrankenhaus an der Buschallee in Weißensee zum Beispiel. In ihrer Heimat bliebe ein solches Haus nicht so lange ungenutzt, sagt sie.

Für die Studenten der Kunsthochschule war das Projekt eine ganz neue Erfahrung. Weil sie die Stadt entdeckten statt ein Produkt herzustellen. Helen Carnac wollte ihnen vermitteln, wie wichtig es ist, sich mit etwas ausführlich zu beschäftigen. Zum Beispiel mit Berlin.

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