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Charité

© Kai-Uwe Heinrich

Charité: Meldesystem für dubiose Vorfälle

In der von den Tötungen betroffenen Station hatte sich niemand getraut, über unangenehme Dinge zu reden. Die Charité zieht aus den Morden der Irene B. jetzt Konsequenzen – mit Vertrauenstelefon und Konferenzen über ethische Fragen.

Die Berliner Richter, die vor einem Jahr über Irene B. zu urteilen hatten, waren fassungslos über das, was sie im Prozess erfuhren: Immer wieder war die Krankenschwester auf der kardiologischen Intensivstation der Charité, ein „Todesengel“, der fünf Menschen mit einer Überdosis an Medikamenten tötete, ihren Kollegen verdächtig vorgekommen. Das erzählten sie später vor Gericht. Irene B. beschrieben sie als gewissenhaft, aber manchmal auch „rabiat“ gegenüber ihren Patienten. Ärzte und Pflegekräfte hatten auf der Station geschwiegen, niemand hatte eingegriffen.

Die Patienten starben zwischen Juni 2005 und Oktober 2006. Irene B.’s Verurteilung zu lebenslanger Haft wurde unlängst rechtskräftig. Doch was hat sich geändert auf der Station? Wurden Schwestern, Pfleger, Ärzte sensibilisiert, damit sich solche Tötungen nicht wiederholen?

Die Charité feuerte die Stationsleitung und versprach interne Kontrollen, die das Qualitätsmanagement der Klinik mit elf Mitarbeitern im vergangenen Sommer einführte. Allen voran steht das Meldesystem für Beinahe-Fehler, Cirs genannt. Wenn ein Klinikmitarbeiter seltsame Vorfälle beobachtet oder selbst Fehler macht, kann er sie elektronisch und anonym in ein klinikweites Intranet eingeben. Alle Mitarbeiter haben Zugang, sagt Lutz Fritsche, der stellvertretende ärztliche Direktor.

Doch nicht alle wüssten überhaupt davon, bemängelt Kilian Tegethoff, Vorsitzender des Gesamtpersonalrates. Der Anästhesist hat sich kürzlich bei allen Kontrollinstanzen umgesehen und befürchtet, „dass viele Informationen vor allem auf Leitungsebene hängen bleiben“. Wichtig sei aber, dass jeder Mitarbeiter informiert werde. Auch das Vertrauenstelefon sei wohl nur wenigen Klinikmitarbeitern bekannt, vermutet er. Bei ihm können sich Charité-Angestellte anonym melden, die ihren Fall dann einem Rechtsanwalt schildern. Dieser notiert die Aussagen und gibt sie weiter an die Klinikleitung, die anschließend den Fall begutachten kann.

Cirs wurde kurz nach Prozessbeginn eingeführt. „Der Fall von Schwester Irene hat gezeigt, dass wir nicht schweigen dürfen“, sagt Fritsche. Ein Hauptproblem auf der kardiologischen Station, auf der die Krankenschwester das Schicksal ihrer Patienten eigenmächtig in die Hand nahm, sei gewesen, dass dort zu wenig miteinander gesprochen wurde: „Keiner hat sich dort getraut, über Dinge zu reden, die nicht schön sind.“

Doch genau das sei extrem wichtig und immer noch riskant, sagt Tegethoff: „Wer Fehler zugibt und ein offenes Gespräch sucht, muss immer noch mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen.“ Tegethoff sieht das Umdenken daher als langen Prozess an. „Fehlerkultur und Gesprächskultur gehen Hand in Hand. Dafür muss Zeit geschaffen werden, die in Kliniken durch Kostendruck und Personalmangel oft fehlt.“

Auch der „Fehler des Monats“ als Kontrollsystem ist neu: Wer durch Stress oder andere Gründe Patienten gefährdet, kann dies dokumentieren und in einer Stationskonferenz mit Kollegen durchsprechen. Jüngstes Beispiel ist eine Krankenschwester, die durch Zeitmangel einem Patienten fast ein orales Medikament in die Venen gespritzt hätte und dies in letzter Sekunde bemerkte. „Der Fehler des Monats kann aber auch aus einer anderen Klinik stammen“, sagt Fritsche. Auf einem virtuellen schwarzen Brett könnten sich alle Charité-Mitarbeiter darüber informieren und ihren Kommentar dazu schreiben.

Die Klinikleitung hat zudem sogenannte Mortalitätskonferenzen geschaffen: Todesfälle gibt es nun mal in einem Krankenhaus – treten sie jedoch gehäuft auf, könnte das auf versteckte Tötungen hinweisen. Bei den Konferenzen treffen sich Ärzte und Pflegekräfte der Intensivstationen, um kritische Sterbefälle zu erörtern. „Wir haben damit bisher sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagt Fritsche. Auch neu geschaffene Ethikkonferenzen seien „enorm wichtig, weil alle Beteiligten in der Arbeit mit ihrem Wertesystem konfrontiert werden“. Hier sei man allerdings noch am Anfang.

Gerade auf Intensivstationen, weiß Fritsche, hätten Mitarbeiter ständig mit Grenzentscheidungen zu tun: „Lohnt es sich noch, dieses Medikament zu geben, oder quäle ich den Patienten nur? Was ist richtig, was ist falsch? Wie sehe ich selbst die Apparatemedizin und die eigenen Ängste?“ Auf die betroffene Kardiologiestation würden deshalb monatlich zwei pensionierte, eigens geschulte Intensivmediziner kommen, die mit den Mitarbeitern über aktuelle Patienten diskutieren.

Personalrat Tegethoff wünscht sich dazu einen möglichst schnellen Umbau der Intensivstationen. „Größere Abteilungen bekommen mehr Personal – das ist wichtig“, sagt er. Doch der Umbau, der Mitarbeiter entlasten soll, könnte sich noch lange hinziehen – Fritsche schätzt, dass er 2009 oder 2010 abgeschlossen sein wird.

Immerhin: Am Anfang habe es im Gespräch zwischen Ärzten und Pflegekräften noch viele Ängste und Barrieren gegeben. „Alle haben dort nach dem anfänglichen Schock, den die Tötungsserie ausgelöst hat, aber viel gelernt“, sagt Fritsche. „Jetzt begegnet man sich auf Augenhöhe.“

Liva Haensel

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