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Diese Mode hat Bestand. Die kurzen schwarzen Hosen und die weißen Kniestrümpfe waren schon immer das Markenzeichen des Chors, wie hier auf dem Bild aus dem Jahr 1980. Leiter Gerhard Hellwig (li.) starb am Sonnabend im Alter von 85 Jahren.

© Adolph press/Sticha

Chor vor dem Aus: Die Schöneberger Sängerknaben verstummen

Keine Auftritte, keine Sängerknaben: Nach dem Tod des Gründers Gerhard Hellwig steht der West-Berliner Traditionschor vor dem Aus. Zuletzt sank die Zahl der Sänger auf etwa ein Dutzend. Ein Nachfolger für Hellwig ist nicht in Sicht.

Über 60 Jahre galt der Satz „Die Schöneberger Sängerknaben sind eine Berliner Marke“. Nun wird es wohl heißen müssen: Sie waren eine Marke. Denn dem traditionsreichen Knabenchor droht die Auflösung, nachdem sein Gründer und Leiter Gerhard Hellwig am Sonnabend im Alter von 85 Jahren gestorben ist.

Schon in den letzten Jahren stand es um den Chor, der in zahlreichen Opernaufführungen, Fernsehsendungen und auf Konzertreisen sang und dessen Lieder wie „Berliner Jungs, die sind richtig” und „Unsere Stadt hört doch nicht am Brandenburger Tor auf“ früher mal täglich im Radio liefen, nicht mehr sehr gut. Weil Hellwig, der mit seinem Lebensprojekt stets auch ein soziales Engagement verfolgte, nie Mitgliedsbeiträge verlangte, fehlte es bei den Montagsproben im Rathaus Schöneberg paradoxerweise zuletzt an Nachwuchs: „Viele Jungen sind nur ein, zwei Mal zum Reinschnuppern gekommen und dann weggeblieben“, sagt Angelika Richter, deren Sohn Benjamin 1987 in den Chor eintrat und die Hellwig wie zahlreiche Eltern über viele Jahre organisatorisch unterstützt hat. Der Chorleiter hat das Problem zwar selbst erkannt – „was nichts kostet, ist nichts”, resümierte er bedauernd –, wollte aber an seinem Konzept nie etwas ändern, da er auch Jungen aus sozial schwachen Familien den Beitritt ermöglichen wollte. Damit blieb Hellwig zugleich auch seinen Anfängen treu, denn für den nach seinem Geburtsbezirk benannten Chor hat er 1947 die ersten Jungen regelrecht „aus den Trümmern gezogen“, wie Richter es nennt. Er gab den Sechs- bis 14-Jährigen mit dem Singen eine Aufgabe und war manchen trotz seiner gefürchteten, aber gerechten Strenge eine Art Ersatzvater. Seine eigene Familie, seine geschiedene Frau, die Sopranistin Janis Martin, und sein Sohn, leben in Texas. 2010 konnte Hellwig sie noch mal besuchen und hat bei der Gelegenheit seine beiden Enkelkinder kennengelernt.

In den 50er und 60er Jahren gehörten dem stets in kurze schwarze Hosen und weiße Kniestrümpfe gekleideten Chor bei einer konstanten Auftrittsstärke von 35 Sängern über 100 Jungen an, die darum kämpften, beim Auftritt im Weißen Haus oder auf der Weltausstellung in Montreal dabei sein zu dürfen. 2010 sank die Zahl zuletzt auf etwa ein Dutzend. Der letzte größere Auftritt fand im Januar 2010 zum 90. Geburtstag des Dramatikers Curth Flatow im Theater am Kurfürstendamm statt. Geprobt wurde immer seltener, und nachdem sich Hellwig im Sommer einer Augen-Operation unterziehen musste, entschied er sich nach den Sommerferien, „den Chor erst mal ruhen zu lassen“, wie er sich seinem Umfeld gegenüber ausdrückte. Zu keiner Zeit war dabei die Rede von einem Stellvertreter oder Nachfolger. „Das ist natürlich sehr schade, und es wäre wunderbar, wenn sich jemand finden würde, der dieses Erbe mit genauso viel Herzblut fortsetzen würde“, sagt Agnes Raucamp, die an dem von Hellwig herausgegebenen Buch „Die Schöneberger Sängerknaben – ein Zeitbild” (Mediahaus GmbH, 26 Euro) mitgearbeitet hat und deren Sohn Max auch einmal Chorknabe war.

Für dieses umfassende Zeitdokument aus 60 Jahren Chorgeschichte hat Hellwig nie groß Werbung gemacht, denn der clevere Selbstvermarkter ging ihm ab. Dafür habe Hellwig, der unter anderem auch Direktor der Berliner Festwochen und Mitbegründer des Berliner Theatertreffens war, etwas sehr Kämpferisches und eine starke Energie besessen, wie seine Weggefährten erzählen. Vor allem für die Wiedervereinigung hat er gekämpft und hat seinen Chor am Brandenburger Tor und auf der Glienicker Brücke dirigiert.

In der Nachwendezeit sei dann die große Ernüchterung gekommen, sagt seine Biografin Raucamp: Die Zeichen standen auf Zukunft und kaum jemand schien sich vor allem in West-Berlin durch den einstigen „Frontstadt-Chor“ an die schweren Zeiten der Teilung erinnert fühlen zu wollen. Dafür stieg die Zahl der Anhänger des Chors im Osten Berlins und im Umland. Zuvor war er der DDR-Regierung ein rotes Tuch gewesen, nun schien er im vereinten Berlin langsam aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden – zumindest empfand Hellwig es so. „Es hat ihn sehr gekränkt, dass der Chor zuletzt zu vielen öffentlichen Anlässen wie dem 60. Jubiläum der Luftbrücke in Tempelhof im Jahr 2009 nicht mehr eingeladen wurde“, erzählt Raucamp.

Halt und Anlass zur Freude haben Hellwig dafür stets die rund 4000 jungen Menschen gegeben, die er ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten konnte. Erst vor wenigen Wochen, so Raucamp, habe er anlässlich einiger Briefe, in denen sich ehemalige Sängerknaben herzlich für die Zeit im Chor bedanken, gesagt: „Ich bin ein glücklicher Mensch.“

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