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Berlin: Christa Rohr (Geb. 1922)

„Es lebe der Vermerk“, sagte sie und: „Nichts ohne Datum und Unterschrift!“

Als Theodor Fliedner 1836 das erste deutsche Diakonissenhaus gründete, führte er als Teil der Diakonissen-Tracht die Haube ein, bis dahin Kopfbedeckung der verheirateten Frauen. Sie sollte den unverheirateten Diakonissen gleiche gesellschaftliche Rechte und damit Schutz vor respektlosem Verhalten verleihen.

Für Oberin Christa Rohr dienten die Haube und ihr Amt gleichermaßen dem Schutz ihrer Privatsphäre. Persönliches erfuhren selbst die engsten Mitarbeiter nicht von ihr. Christa Rohr – das war die Frau Oberin, nicht mehr, nicht weniger.

Die Schwesternschaften des Roten Kreuzes waren entstanden, als es Mitte des 19. Jahrhunderts an professionellen Pflegekräften mangelte. Anders als die christlichen Orden verstanden sie sich als überkonfessionell, doch verzichteten auch die DRK-Schwestern bis Anfang der siebziger Jahre auf eigene Familien. Die Schwesternschaft sorgte für sie, von der Ausbildung bis zum Tod.

Christa Rohr wurde mit 35 die jüngste Oberin, die je einer DRK-Schwesternschaft vorgestanden hatte. Als oberste Dienstherrin mehrerer Krankenhäuser und Altenheime war sie auf Ordnung und Pflichterfüllung bedacht und strukturierte ihr Arbeitsleben fein säuberlich: Jeden Tag um acht rief sie Pflegedienstleiterinnen, Geschäftsführer und Chefärzte an, egal, ob etwas anlag oder nicht.

Auf die Telefonate folgten Dienstbesprechungen. Der Sekretärin diktierte sie Aktenvermerke. „Es lebe der Vermerk“, pflegte sie zu sagen und: „Nichts ohne Datum und Unterschrift!“ Besprochen wurde auch alles, worum sie sich als „Mutter“ der Schwestern kümmert: Geburtstagsgrüße, Arbeitsplätze für Schwestern mit gesundheitlichen Problemen, Beerdigungen. Ein mütterlicher Typ war sie nicht. Fürsorge war Pflicht.

Brach sie zu einem Termin auf, stand ihr die Oberschwester zur Seite. Die Oberin fragte: „Wie ist denn das Wetter? Brauche ich einen Mantel?“ und ließ sich die Tasche bis zur Pforte tragen. Kam sie spät nach Hause ins Mutterhaus, von Gremiensitzungen oder aus der Philharmonie, empfing man sie am Gartentor. Auf Hierarchien und die Ehrerbietung der Schwestern legte sie größten Wert. Etwa beim gemeinsamen Mittagessen: Um halb eins ertönte der Gong. Die Schwestern strömten in den Speisesaal, setzten sich aber erst, wenn die Oberin sich setzte. Die Ordnung war heilig: die Oberin am Kopf der Tafel, dann die pensionierten Oberschwestern, ganz hinten die zuletzt hinzugekommenen aktiven Schwestern. Das Essen wurde zuerst der Oberin gereicht; die ganz hinten erreichte es zuletzt. Wenn die Oberin aufgegessen hatte, war die Mahlzeit für alle beendet. Unmöglich, diese Oberin etwa Privates zu fragen.

Immerhin sprach sie von ihrem Vater, der gestorben war, als sie fünf war. In ihrem Zimmer hing ein Bild von ihm. Ein anderes Bild zeigte die Kirche des ostpreußischen Lyck, wo sie geboren worden war. Weiteres erfährt man aus einem Lebenslauf, den sie 1945 in Sütterlin verfasst hatte: Von 1940 bis 1945 war sie „Führerin“ beim Reichsarbeitsdienst, für den sie zuletzt ein Lager bei Frankfurt an der Oder leitete. Vermutlich wurden dort junge Frauen beaufsichtigt, die man zum Arbeitsdienst verpflichtet hatte. 1945 floh sie vor den Russen. Weil der Weg nach Berlin gesperrt war, fuhr sie mit dem Fahrrad nach Schleswig-Holstein. In Lübeck begann sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester.

Was sie bewegt hatte, einer Schwesternschaft beizutreten, bleibt im Dunkeln. Waren es ihre Erlebnisse auf der Flucht? Oder der Verlust eines geliebten Menschen im Krieg? Als eine der Schwestern sie kurz vor ihrem Tod besuchte, entdeckte sie das Foto eines jungen Mannes. „Wer ist das?“, fragte sie. „Das“, sagte die Frau Oberin, „ist mein Verlobter.“

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