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Berlin: Das Gericht greift durch: 13 Jahre Haft für U-Bahn-Schubser

Das Opfer Thiemo K. hatte beide Beine verloren. Der Täter hoffte auf Strafmilderung, weil er getrunken hatte. Doch das Urteil ging über den Antrag des Staatsanwalts hinaus

Von Kerstin Gehrke

und Stefan Jacobs

Der Staatsanwalt hatte zehn Jahre Haft gefordert. Da jammerte Waldemar O., er werde das nicht überstehen. Als die Richter gestern ihre Entscheidung verkündeten, stockte ihm der Atem: 13 Jahre Haft wegen versuchten Mordes an Thiemo K. Zufällig, ohne nachvollziehbaren Grund habe Waldemar O. den damals 22-Jährigen vor die U-Bahn gestoßen. Der Angeklagte habe sich über die Regeln des menschlichen Miteinanders hinweggesetzt, sagte Richterin Angelika Dietrich. Thiemo K. reagierte zufrieden, aber nicht erleichtert auf das Urteil: „Es hätte mehr sein können. Aber besser so als zu wenig.“ Der Urteilsverkündung blieb er fern. „Mir hat es gereicht, den Typen einmal zu sehen“, sagte er gestern.

Die beiden Männer hatten sich nie zuvor gesehen. Arglos stand Thiemo K. am 16. Dezember 2002 auf dem U-Bahnhof Zwickauer Damm. Er war auf dem Heimweg von seiner Ausbildungsstelle, wollte nach Hause zu seiner Freundin und der kleinen Tochter. Reichlich zwei Meter neben der Bahnsteigkante sprach Waldemar O. ihn an. Auf Russisch. Der 33-jährige Spätaussiedler aus Kasachstan hatte getrunken. Thiemo K. wollte ihm helfen, verstand ihn aber nicht. Als seine Bahn einfuhr, verabschiedete sich der schmächtige K. von dem 2,08 Meter großen Waldemar O.

Den Moment des Umdrehens habe der Angeklagte „bewusst und gezielt ausgenutzt“, hieß es im Urteil. Sein wuchtiger Stoß schleuderte Thiemo K. ins Gleisbett. Der erste Wagen überfuhr ihn. Thiemo K. verlor beide Unterschenkel und Knie. „Er überlebte diesen Mordanschlag nur aufgrund mehrerer glücklicher Umstände“, sagte die Richterin. Ein Fahrgast band ihm sofort die Beine ab, sonst wäre er binnen zehn Minuten verblutet.

Waldemar O. war am Tag nach der Tat festgenommen worden. Im Prozess hatte er sich auf Erinnerungslücken berufen. Aber an seinen Alkoholkonsum am Tag der Tat konnt er sich recht gut erinnern: Mehrere Flaschen Bier und mehr als eine Flasche Wodka will er getrunken haben. Er hoffte auf Strafmilderung wegen seines Alkoholkonsums. Bei einer Tat im Vollrausch drohten ihm höchstens fünf Jahre Gefängnis. Doch ein Gutachter erklärte, dass O. nicht so betrunken war, dass von einer Rauschtat auszugehen sei. Nach dem Stoß sah er noch auf die Gleise, flüchtete dann Richtung Treppe.

Das Gericht ging zwar von einer verminderten Schuldfähigkeit wegen O.s Alkoholisierung aus. Damit verringerte sich der mögliche Strafrahmen auf drei bis 15 Jahre. Doch die Richter sahen weniger Anlass zur Milderung als der Staatsanwalt. Zwar sei der Angriff des Angetrunkenen spontan gewesen. Doch auch das habe das Strafmaß nur geringfügig beeinflusst. „Denn diese Spontaneität war von ungeheurem Vernichtungswillen geprägt.“ Ein Mordanschlag in einem öffentlichen Raum erschüttere die Bevölkerung, hieß es im Urteil. Und es waren vor allem die schweren Folgen der Tat, die von den Richtern strafverschärfend gewertet wurden. Sie hatten Thiemo K. im Zeugenstand erlebt. Er lehnte seine Krücken an den Tisch und sagte, man lerne mit den Prothesen umzugehen. Er sprach sachlich von den „Schmerzen wie Stromstößen“, die ihn quälen, und von der Hilfe vieler Berliner. „Mit bewundernswertem Optimismus hat er sein Leben neu begonnen“, sagte die Richterin. Am Dienstag hat Thiemo K. einen Ausbildungsvertrag zum Industriekaufmann bei Wall unterschrieben. „Am 18. August beginnt die Berufsschule, im September geht’s dann richtig los. Ich kann gleich ins zweite Ausbildungsjahr springen“, sagte er.

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