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Berlin: Das Schreien wird ignoriert, bis es verstummt

Bei Kindesmisshandlungen schweigen die Nachbarn oft – die Polizei will deshalb Zeugen ermutigen

Warum schweigt ein Mensch, obwohl er ahnt, dass in seiner Nachbarschaft ein Kind misshandelt wird? Kriminaloberrat Michael Havemann, zuständig für Delikte an Kindern im Landeskriminalamt, kennt vor allem einen Grund – aber den lässt er nicht gelten: „Das ist die Angst“, sagt er, „es sich mit der Umgebung zu verderben.“ So wird es nach seiner Einschätzung auch in Wilmersdorf gewesen sein, wo die junge Mutter Veronika W. ihren zweijährigen Sohn Alisan-Turan im November 2001 in der Wohnung eines Mietshauses verdursten ließ. „Sein Todeskampf war schrecklich und ereignete sich mitten unter uns – warum merkte es keiner?“, fragte auch der Richter am Berliner Landgericht, dass die Frau am Montag wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte. Kripo-Experten vermuten, „dass Alisan-Turan mindestens eineinhalb Tage immer wieder geschrien hat.“ Aber es wurde überhört. Erst acht Wochen später brachen Polizisten die Tür auf, weil es nach Verwesung roch – und entdeckten die Leiche des Kindes.

„Ein einziger beherzter Nachbar hätte diese Tragödie verhindern können“, sagt Kripomann Havemann und versichert: „Wer bei uns einen Verdacht äußert, muss nichts fürchten.“ Man gehe Hinweisen zurückhaltend nach. Außerdem seien anonyme Tipps möglich. „Die nehmen wir gleichfalls ernst.“

Auch Berlins Jugendämter wollen mögliche Zeugen einer Kindesmisshandlung ermutigen. „Wer uns informiert, ist doch kein Denunziant“, sagt der Direktor des Spandauer Jugendamtes Gerd Mager und verspricht: „Wir gehen diskret vor.“ Magers Behörde hat ein in Berlin seltenes Angebot: Spandau unterhält ein Kriseninterventionsteam. Wer sich unter der Nummer 3751530 meldet, erreicht dort jederzeit einen einsatzbereiten Sozialarbeiter. In anderen Bezirken müssen sich Anrufer an Dienstzeiten halten. Ist Eile geboten, sind sie auf die Polizei angewiesen.

Ob das neue von der Bundesregierung geplante Gesetz gegen Kindesmissbrauch zusätzlich helfen kann, ist unter Experten umstritten. Wie berichtet, will der Bund die Nichtanzeige eines solchen Deliktes mit bis zu fünf Jahren Haft bestrafen, doch bei der Kripo verspricht man sich wenig davon. Zum einen verstehen die Beamten nicht, weshalb der Gesetzesentwurf nur sexuellen Missbrauch, aber keine Misshandlungen einschließt. Zum anderen bezweifeln sie, dass eine Strafandrohung mögliche Zeugen aus der anonymen Deckung treibt. Vielversprechender sei ein Hilfsnetz, das zur Zeit in Berlin enger geknüpft werde.

So kann die Polizei dank des neuen Gewaltschutzgesetzes schneller in zerrütten Familien eingreifen. In erster Linie gehen die Beamten dabei mit Wohnungsverweisen gegen Männer vor, die ihre Frauen schlagen. „Aber in dieser Situation schauen wir auch genau hin, wie es den Kindern ergeht“, so eine Ermittlerin. Mehr Fälle denn je werden seither aufgeklärt. Aktuelle Zahlen liegen noch nicht vor, doch schon zwischen 2000 und 2001 stieg die Zahl geklärter Fälle von 198 auf 267.

Und Berlins Kinderärzte achten in ihren Praxen gleichfalls „sehr genau“ auf Symptome möglicher Gewalt, sagt der Spandauer Pädiater Ulli Fegeler. Gemeinsam mit Sozialämtern entwickelten sie überdies einen Leitfaden für professionelle Helfer, der Anzeichen von Misshandlungen erläutert. Denn bei älteren Kindern sind auch Kita-Erzieher oder Lehrer als scharfe Beobachter gefordert.

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