zum Hauptinhalt
Mindestens ein Kind pro Tag stirbt durch die Hände seiner Eltern oder den Lebenspartner. Im Fall Zoe hatten viele staatliche und andere Stellen die Möglichkeit, Verdacht zu schöpfen

© imago

Kindesmisshandlung: Warum Helfer nichts merkten: "Der Fall Zoe zeigt unsere Grenzen"

Formal habe man keine Fehler gemacht, sagt das Jugendamt in Berlin. Etliche Helfer haben sich um die Familie der zweijährigen Zoe gekümmert. Und doch hat niemand bemerkt, dass die Zweijährige schwer misshandelt wurde. Eine Rekonstruktion.

Vielleicht ist es dieser eine Satz, den sie sagt, und bei dem sich ihre Augen trüben, der das ganze Dilemma beschreibt. Drei Stunden lang hat Judith Pfennig, Jugendamtsleiterin in Pankow, eine warmherzige Frau mit weißgrauer Ponyfrisur, Erklärungen gesucht und Schwachstellen analysiert. Immer hat sie sich um klare Worte bemüht. Aber in ihren Augen und an den gebeugten Schultern ist sichtbar geworden, dass der Tod des Mädchens eine Last bleiben wird. Sie sagt: „Dieser Fall zeigt unsere Grenzen. Es gibt Dinge, die kann man nicht regeln.“

Zweieinhalb Jahre war Zoe alt, und zweieinhalb Jahre ist es nun schon bald her, dass ihr von einer massiven Entzündung im Bauchraum geschwächter Kreislauf am 31. Januar 2012 gegen vier Uhr morgens kollabierte.

Im März hat der Prozess vor dem Moabiter Landgericht gegen die Mutter Melanie S. und ihren Lebensgefährten Matthieu K. begonnen, an diesem Dienstag wird er fortgesetzt. Es geht im Prozess in erster Linie um K. und S. Aber hinter der Kernfrage, wie dieses Paar zu mutmaßlichen Mördern werden konnte, über die wir bereits berichtet haben, verbirgt sich eine andere: die Systemfrage. Wie kann es sein, dass niemand aus einem engen Netz von sozialen Helfern die Gefahr für die Kinder sah?

K. ist wegen Mordes angeklagt, er soll Zoe in den Bauch geboxt oder getreten haben. S. steht wegen Mordes durch Unterlassen vor Gericht. Ein Urteil ist nicht in Sicht, weil noch viele Zeugen gehört werden. Nach Tagesspiegel-Recherchen stehen allerdings wichtige Zeugen nicht auf der Liste. Das Jugendamt wurde bisher nicht gehört. Vor allem nicht der Sozialarbeiter, der für das Jugendamt die Familie betreute, neben den zwei Familienhelferinnen des Freien Trägers Independent Living, den das Sozialamt als zusätzliche Hilfe beauftragt hatte.

Der Mitarbeiter des Jugendamts war, anders als die Helfer, die die Familie bis zu acht Stunden pro Woche betreuten, im Januar mehrfach unangemeldet in der Wohnung. Die Angestellten des Freien Trägers wiederum, die bereits vor Gericht ausgesagt haben, waren nach eigener Aussage im Januar 2012 erst am Tag vor dem Tod Zoes wieder dort. Sie ließen das Paar an jenem Januartag mit der schwer verletzten Zoe alleine zum Kinderarzt gehen. Sie vertrauten dem Paar, obwohl sie mehrfach von beiden in wichtigen Fragen belogen worden waren. K. und S. brachten das Mädchen nie zum Arzt.

Zwölf Einblutungen nur am Kopf

Eigentlich kümmerte sich der Staat intensiv, ja formal vorbildlich um die vom Leben überforderten Melanie S. und Matthieu K. Der ungelernte, arbeitslose K. hatte seit vielen Jahren einen Betreuer vom Sozialamt an seiner Seite. Melanie S. wiederum nahm, nachdem sie mit knapp 17 Jahren von zu Hause ausgerissen war, insgesamt in drei Bezirken bei staatlichen Stellen Hilfe in Anspruch. Als das Jugendamt Pankow Melanie S. kennenlernte, um sie und ihre drei Kinder von zwei abgetauchten Vätern zu betreuen, hatte sie nichts: keinen Ausweis, keine Krankenversicherung, keine Papiere für die Kinder, kein Geld. Matthieu K. spielte in der Liste von Baustellen, die die Sozialarbeiter anzugehen hatten, keine Rolle.

Seit August 2011 haben rund acht Personen aus staatlichen oder anderen Stellen die Familie betreut: Sozialamt, Jugendamt, Kinder- und Gesundheitsdienst, der Freie Träger Independent Living, Kinderärzte. Die Gerichtsmedizinerin, die Zoe nach ihrem Tod obduzierte, fand zwölf Einblutungen allein am Kopf, sechs weitere am Arm. Kripobeamte sprachen vor Gericht von einem „von Hämatomen übersäten Körper“. Hämatome fanden sich auch am Körper der anderen Kinder. Nach Tagesspiegel-Informationen haben die Geschwisterkinder zudem ausgesagt, dass sie Angst vor K. hatten, der ältere Bruder Zoes hat Hinweise darauf gegeben, dass er geschlagen wurde.

Vor Gericht gehörte Paul G., ein Freund von K., der eine Zeit lang mit in der Wohnung gewohnt hat, zu den Zeugen. Er sagte aus, dass er in der Wohnung „drei Sozialarbeiter“ auf die blauen Flecke der Kinder aufmerksam gemacht habe. Dazu sagt Susanne Rosenstock, die in diesem Fall für Independent Living beauftragte Rechtsanwältin: „Dem Träger lagen keine Hinweise auf eine körperliche Misshandlung von Dritten, insbesondere durch den Lebenspartner vor. Aus diesem Grunde wurde vor dem Tod des Mädchens das Thema Gefahr von Misshandlung mit dem Jugendamt nicht thematisiert.“ Auch Pfennig sagt: „Es gab keinen Hinweis von Dritten an uns, auch nicht von einem Mitbewohner, dass die Kinder misshandelt wurden. Jedenfalls gibt es dazu bei uns keinen Vermerk. Ich kann nicht glauben, dass drei Sozialarbeiter einen solchen Hinweis ignoriert hätten.“

Die Familienhelferinnen hatten vor Gericht ausgesagt, dass K. und S. einen „liebevollen zugewandten Umgang“ mit den Kindern gepflegt hätten, niemals seien sie aggressiv geworden. In Justizkreisen wird nun darüber diskutiert, das 2013 wegen Mangels an Beweisen bereits eingestellte Ermittlungsverfahren gegen die Sozialarbeiter des Freien Trägers wieder aufzunehmen. Der Prozess, heißt es, habe neue Fragen aufgeworfen.

Vom Sozialamt kamen keine Informationen

Judith Pfennig sieht mitgenommen aus. Sie bemüht sich um eine gerade Sitzhaltung, aber das Gespräch hat sie angestrengt, alles ist wieder hochgekommen, die Beschuldigungen in einigen Medien, die sie aus ihrer Sicht zu Unrecht an den Pranger stellten, Hassmails und Beschimpfungen, emotionale Ausnahmezustände, die sie sich jetzt nicht mehr anmerken lassen will. Man glaubt ihr, wenn sie sagt, dass der Tod des Mädchens, „alle Mitarbeiter hier im Jugendamt massiv erschüttert hat. Uns ist das sehr nahegegangen“.

Aber Pfennig hat auch die Pflicht zur klaren Analyse, und so hat sie mithilfe von anderen Experten „Fehler im System“ ausgemacht. Da ist etwa die Zusammenarbeit mit dem Sozialamt. Einer der wichtigsten Zeugen ist in diesem Fall Mitarbeiter des Sozialamts, der Betreuer von K., der am Dienstag aussagen wird.

Pfennig sagt: „Das Sozialamt ist nicht in der Pflicht, uns zu berichten. Das ist eine der Schwachstellen, denn wenn Kinder im Spiel sind, müsste das ein Automatismus sein, dass dann alle Beteiligten ins Gespräch kommen. Das war nicht der Fall.“ Ähnliches gilt für den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. Zwischen dieser Institution und dem Jugendamt gebe es „kaum Kommunikation“. Als das Jugendamt und der Freie Träger im August 2011 einstiegen, mussten sie sich schnell ein Bild machen, es galt einen riesigen Berg an Problemen „Stück für Stück abzubauen“. Es ging um Papiere, um Geld, um Kitaplätze, um ärztliche Betreuung für die Kinder, weil sie nicht altersgemäß entwickelt waren, um eine neue Wohnung, weil S. zwischenzeitlich nicht mehr mit K. zusammenleben wollte. Vor allem ging es um die anstehende Geburt des vierten Kindes von S., das sie im Dezember 2011 bekam und zur Adoption freigab, eine Schwangerschaft, die sie bis kurz vor der Geburt vor allen Sozialarbeitern verheimlichte.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Sah deshalb niemand das Unheil kommen, ahnte niemand, welche Angst die Kinder vor K. hatten, weil zu viel zu tun war? Experten aus dem Landeskriminalamt sagen, ein Freund, der nicht der Vater ist, sei das größte Risiko für die Kinder – weil er oftmals von der Mutter geschützt wird.

Judith Pfennig sagt dann noch einen letzten Satz, und man merkt, wie schwer er ihr fällt. Sie weiß selbst, es ist ein Satz voller Hilflosigkeit: „Formal haben wir alles richtig gemacht.“

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false