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Berlin: Der Mann von Zimmer 1

Aus einem Notfall wurde eine Lebensform: Seit 18 Jahren lebt Rocco in der Pension Kettler in Charlottenburg. Es ist schön und bequem hier, sagt er

Die Wirtin, Isolde Josipovici, ist mit Recht stolz auf ihre Pensionszimmer. Sie heißen „Königin Louise“ oder „Toulouse Lautrec“ und lassen ihre Bewohner zwischen klobigen Eichenschränken und geschwungener Bettornamentik tief in die solide Doppelmoral der Kaiserzeit versinken. Bezüge und Übergardinen sind aus schweren Stoffen gefertigt, die Tapeten tragen Muster und in den handgefertigten Waschkabinen lassen sich problemlos überzählige Mätressen verstecken. „Sexy boudoir charme“, urteilten die Testtouristen im Reiseführer „Lonely planet“. Nur „Zimmer 1“ fällt etwas aus dem Rahmen. Hier wohnt Rocco. Im April sind es 18 Jahre, seit er einzog.

Rocco ist Flaneur. Bevorzugtes Revier: Kufürstendamm. Er ist irgendwie auch Künstler, ohne sich einem speziellen Sujet zu widmen. Roccos Selbstauskünfte tendieren oft ins Rätselhafte. Manchmal widersprechen sie sich auch, was die Berichterstattung nicht erleichtert. Einmal sagt Rocco, dass er unter den Pensionsgästen, die nur vorübergehend bei Frau Josipovici logieren, viele interessante Bekanntschaften gemacht habe. Ein anderes Mal erzählt er, dass er zu den übrigen Gästen keinen Kontakt suche. „Gott bewahre.“ Die Wahrheit ist, dass Rocco nicht gerne Auskunft gibt über sein Privatleben, sich aber gerne fotografieren lässt.

Als er im April 1987 in die „Pension Kettler“ einzog, handelte es sich um einen Notfall. Rocco musste seine Drei-Zimmer-Wohnung in der Knesebeckstraße überstürzt verlassen. Ursache war ein vertraktes Beziehungsproblem. Ein Freund vermittelte die Adresse von Frau Josipovici in der Bleibtreustraße. Rocco fand Aufnahme. Es gefiel ihm gut, also blieb er. „Es ist ja sehr bequem. Ich muss nicht putzen.“ Das Frühstückmachen fällt auch weg. Seine persönliche Habe verstaut er in einem großen Schrank hinterm Bett. Dinge des täglichen Bedarfs verteilen sich gleichmäßig auf Tisch, Couch und einer kleinen Kommode. Aufräumen könnte er schon mal, findet Frau Josipovici. „Aber wenn ich ihm das sage und er räumt auf, sieht es am nächsten Tag wieder genauso aus.“

Frau Josipovici und Rocco, der seinen wirklichen Namen für sich behält, sind mit den Jahren enge Freunde geworden. Sie gehen zusammen auf Partys, ins Kino oder besuchen Ausstellungen. Beide sind Jahrgang 1946. Ihre Liebe gilt der bildenden Kunst. Der überlange Flur der Pension ist ohne erkennbare Ordnung mit Grafiken, Collagen und Reproduktionen behängt. Um Spekulationen über den Charakter ihrer Wohngemeinschaft zuvorzukommen, erklärt Rocco ohne Umschweife: „Ich bin schwul, sie ist hetero.“

Roccos Leben begann in Warnemünde. Seine Jugendzeit hat er nicht gut in Erinnerung. „Alle Verwandten waren bei der Stasi.“ Überhaupt möchte er nicht an die DDR erinnert werden. Die sperrte ihn ein, als er sie verlassen wollte. 1977 kam er dann doch raus, schlug sich irgendwie im Westen durch und machte eine Postergalerie im Ku’damm-Karree auf. Als das Karree komplett umgestaltet wurde, die Baustaubschichten auf seinen Postern immer dicker wurden, gab er auf. Wovon er jetzt lebt oder wieviel er für sein Zimmer bezahlt, möchte er nicht sagen. Gegen Mittag verlasse er die Pension, gehe spazieren oder treffe Bekannte („Freunde gibt es nicht“). Irgendwann in der Nacht kehre er dann in sein Zimmer zurück. Rocco ist ein pflegeleichter Mitbewohner. Er gibt keine Partys, spielt keine laute Musik und mischt sich nicht in Isoldes Angelegenheiten. In den 18 Jahren ihres Zusammenlebens hätten sie sich nicht einmal gestritten, sagt Frau Josipovici.

Die Pension Kettler erstreckt sich auf 280 Quadratmeter und achteinhalb Zimmer. Bis in die 30er Jahre habe dort ein jüdischer Arzt gewohnt und praktiziert, erzählt die Wirtin. In Roccos Zimmer warteten die Patienten. Frau Josipovici belegt anderthalb Gemächer für private Zwecke, also bleiben sechs Zimmer für die Gäste, nur leider stehen sie derzeit leer. Während der Berlinale standen sie auch leer. Genauso wie zur Grünen Woche. Seit zwei Jahren läuft das Geschäft mehr als bescheiden. Die großen Hotels buhlen mit Dumpingpreisen um ihre Stammkunden aus Israel und England. Rocco zählt auf, was alles dichtgemacht hat auf dem Ku’damm. Er findet es beschämend, wie der Osten der Stadt – damit meint er ihre historische Mitte – so hochgepäppelt werde und der Westen allein gelassen dahinsieche. Rocco meidet die Stadtteile jenseits des Tiergartens und schwärmt von den Tagen, als die Mauer den Westen noch vor der Verostung schützte.

Frau Josipovici lässt sich von Roccos Larmoyanz nicht beirren. Sie will ein Goethe-Zimmer ausstatten und ein weiteres der Callas widmen. Das Geld dafür werfen ihre Appartements ab, die über die Stadt verteilt und immer gut vermietet sind. Roccos Zimmer bleibt Roccos Zimmer. „Ich habe es ihm eingerichtet. Nun muss er was draus machen.“ Aber er macht nichts draus. Frau Josipovici seufzt. Rocco bindet sich seine hellgrauen Haare jeden Morgen zu einem Zopf. Darunter trägt er durchgehend Schwarz. Sein großes Vorbild in der Mode und auch als Mensch ist Karl Lagerfeld. So hamburgisch reserviert, so undurchschaubar, so stilsicher und extravagant möchte er auch sein. Karl Lagerfeld versteigerte vor vier Jahren alle Möbel und Kunstwerke aus seinem Pariser Palais. Dieses radikale Ballastabwerfen, das muss der wahre Grund gewesen sein, weshalb Rocco ins „Zimmer 1“ einzog.

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