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Berlin: Der Mauerbau: Die Mauer verbindet

Wenn doch die Mauer noch stünde, zumindest hier am Pariser Platz - Stadtführer Larry Norton hätte es leichter, sich bei seiner zahlenden Kundschaft Gehör zu verschaffen. Sonntagsstau am Brandenburger Tor, Touristenströme auf den Gehwegen.

Wenn doch die Mauer noch stünde, zumindest hier am Pariser Platz - Stadtführer Larry Norton hätte es leichter, sich bei seiner zahlenden Kundschaft Gehör zu verschaffen. Sonntagsstau am Brandenburger Tor, Touristenströme auf den Gehwegen. "Am Brunnen vor dem Tore", tönt der Drehorgelmann. Mittendrin schleicht die Autokarawane über den Platz, Reisebusse auf Stadtrundfahrt, aus einem offenen Schiebedach ragt ein japanischer Kameramann. Larry Norton, Student aus Cherry Hill, New Jersey, steigt auf eines der rot-weißen Plastikelemente, die die Fahrbahn begrenzen, und nimmt die kraftvolle Stimme eines Volksredners an. 20 Touristen haben sich um ihn geschart. Sie kommen aus Australien und den USA, aus Singapur, Hongkong, Kanada. Sie wollen von Larry hören, wie es war, als die Mauer in Berlin die Welt zerteilte.

Zum Thema Fototour: 40 Jahre Mauerbau Seit einigen Wochen führt der 25-jährige Amerikaner, der an der Elite-Universität Yale studiert, Touristengruppen am ehemaligen Grenzstreifen entlang. Nach Berlin kam er im vergangenen September für ein Parlamentspraktikum. Drei Monate hat er im Bundestagsbüro von Günter Rexrodt gearbeitet. Seinen Job als Mauerläufer fand er bei dem Briten Nicholas Gay, der seit 1993 mit seiner Firma "BerlinWalks" Stadtrundgänge in englischer Sprache anbietet.

Als die Mauer fiel, war Larry Norton elf Jahre alt. Jetzt wischt er mit einer ausladenden Geste die neuen Gebäude am Pariser Platz beiseite, und mit dem breiten Kaugummi-Akzent der amerikanischen Ostküste rekonstruiert er den einstigen Todesstreifen zwischen Ost und West in der Phantasie seiner Zuhörer.

Der Spaziergang vom Brandenburger Tor über den Potsdamer Platz zum Checkpoint Charlie verlangt den Teilnehmern einiges an Vorstellungskraft ab. In der neuen Mitte hat die Teilung kaum Spuren hinterlassen. Doch Larry hat den Bogen raus. Ob beim Blick auf die Reichstagskuppel, beim Zwischenstopp am Gelände des Holocaust-Mahnmals, an den Ministergärten - in 100-Meter-Abständen schlägt er mit kurzweiligen Vorträgen Brücken in die Vergangenheit, wandert auf dem einstigen Todesstreifen kreuz und quer durch ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Natürlich erzählt er auch vom Führerbunker. "Das ist immer wieder ein Highlight. Auch wenn da heute nur noch ein Parkplatz ist, wollen viele unbedingt hin, um dort zu stehen, wo Hitler starb", sagt Larry. Und an beinahe jeder Station auf der Spur der Pflastersteine, die den Verlauf der Mauer markieren, hat er eine andere spektakuläre Fluchtgeschichte parat, in deren Schatten die Bedrohung des Todesstreifens wieder spürbar wird, die verschwundene Mauer wieder greifbar nahe rückt.

Kevin Dwyer ist begeistert vom Talent seines Stadtführers. "Der Junge ist großartig", sagt der 65-jährige Australier, der mit seiner Frau zum ersten Mal in Europa ist. Vier Wochen hat er schon hinter sich, hat von Großbritannien aus an einer Busreise durch Holland, Frankreich und Belgien teilgenommen, "zu den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs". Auf seiner History-Tour durch Europa darf Berlin nicht fehlen. Dwyer gehört mit Abstand zu den Ältesten, die an Larry Nortons Führung teilnehmen. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Jetzt steht der Australier mit der Videokamera am Sony Center und erfährt von Larry, der Potsdamer sei in den 20er Jahren der "Piccadilly Circus of Berlin" gewesen. Vom späteren Niemandsland, das hier von Touristen auf Aussichtstürmen bestaunt wurde, gewinnt Kevin Dwyer wenige Meter weiter einen sinnlichen Eindruck. Neben den letzten zwei verbliebenen Mauerelementen an der Ecke Stresemannstraße stoppt die Gruppe an der Erfrischungsbude. Ob die Kerben im bunt bemalten Beton Einschusslöcher seien, fragt die 22-jährige Alice aus Chicago. Nur zwei Panoramafotos erinnern an die Ödnis, die sich zwischen den Fronten des Kalten Krieges breitete. "Nach der bitteren Erfahrung der Mauer haben die Berliner zunächst fast alles getilgt, was sie an die Teilung erinnerte", erklärt Larry Norton den Verlust an Zeugnissen der Zeitgeschichte.

Inzwischen aber wandelt sich offenbar das Bewusstsein bei den Deutschen. "In den Jahren nach dem Mauerfall waren die Menschen einfach zu sehr mit den Problemen der Vereinigung beschäftigt, um sich mit der Geschichte der Teilung zu beschäftigen", sagt Maria Nooke. Erst langsam habe eine "intensive Beschäftigung" mit der Teilung und ihren jeweiligen Einflüssen auf die Biografien in Ost und West eingesetzt.

Auch die 42-Jährige hat die Spurensuche nach der Mauer zum Beruf gemacht. Im Dokumentationszentrum der Berliner Mauer in der Bernauer Straße bereitet Maria Nooke die Ausstellung zum 40. Jahrestag des Mauerbaus vor, die am Montag eröffnet wird. Seit Jahren interviewt sie Deutsche aus Ost und West für ein Zeitzeugenarchiv. Wie gegenwärtig die Teilung auch im wiedervereinten Deutschland ist, erlebt sie täglich in Gesprächen mit Besuchern der Gedenkstätte. "Die unterschiedliche Sozialisierung der Menschen in Ost und West hat Auswirkungen, die noch lange nicht überwunden sind." Maria Nooke erlebte die Teilung aus der DDR-Perspektive und erinnert sich gut an die Hemmschwelle, die sie angesichts der Mauer verspürte. "Das Grenzregime war so aufgebaut, dass wir gar nicht richtig an die Mauer herankamen. Als ich 1989/90 am Potsdamer Platz stand, war es für mich irritierend und erschlagend, dass ich auf einmal so nah an der Mauer stand." Eine Erfahrung, die nach Ansicht Maria Nookes kaum ein Westdeutscher nachvollziehen kann. "Und umgekehrt haben wir darüber geschmunzelt, wenn Westdeutsche von ihren Ohnmachtserfahrungen bei den Grenzkontrollen erzählten."

Für Maria Nooke ist die Gedenkstätte an der Bernauer Straße, die am 13. August 1961 der Länge nach geteilt wurde, deshalb vor allem ein Ort der Begegnung, der Ost- und Westdeutschen eine einzigartige Chance zur Annäherung anbietet. "Die Auseinandersetzung mit der Teilung und der Erfahrungsaustausch hat eine entscheidende Bedeutung für den Vereinigungsprozess."

Auch Larry Norton hat frühzeitig Ost-West-Erfahrungen gesammelt. "1993 war ich als Austauschschüler in Genthin in Sachsen-Anhalt. Mein Gastvater hat die PDS gewählt, und mein Lieblingslehrer am dortigen Gymnasium wurde wegen Stasi-Tätigkeit aus dem Schuldienst entlassen." Später hat er eine Zeit lang in Marburg studiert. Der 25-Jährige kennt die hartnäckigen Vorurteile, die Ossis und Wessis gegeneinander hegen und pflegen, die Vokabeln "Ostalgie" und "Besserwessi" spricht er akzentfrei aus.

"Aber das ist alles Quatsch im Vergleich zu den wirklichen Weltproblemen", findet Larry. Die Konflikte, die er als Amerikaner an der Uni Marburg mit palästinensischen Mitstudenten auszufechten hatte, seien da viel ernster gewesen. "Die Deutschen können sich freuen, dass sie sich nur über so kleine Probleme den Kopf zerbrechen müssen." Die internationale Touristengruppe, die Larry an diesem Sonntag begleitet, behelligt er gar nicht erst mit diesen deutsch-deutschen Missverständnissen. Stattdessen lässt er seine Zuhörer auf den Eingangsstufen des Gropius-Baus Platz nehmen, wo er vor der Kulisse des Preußischen Landtags die historischen Ereignisse eines halben Jahrhunderts Kalten Krieges zusammenfasst. Nach knapp fünf Minuten hat er Schabowskis legendäre Pressekonferenz vom 9. November 1989 erreicht und erzählt von der Nacht, als in Berlin der Eiserne Vorhang fiel. "Und das Beste an diesem historischen Abend war: Es war kurz vor Mitternacht und der Beginn eines dreitägigen Wochenendes. Genau die richtige Zeit für eine feucht-fröhliche Wiedervereinigungsparty". History - the american way.

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