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Umsturz-Analytiker. Bürgerrechtler Jens Reich und Janusz Grabowski, Historiker Hanno Hochmuth und Tagesspiegel-Journalist Robert Ide (v.l.) diskutieren über 1989.

© Doris Spiekermann-Klaas

Diskussion über 1989 im Tränenpalast: Der Rausch der Revolution

Am Tor der Lenin-Werft in Danzig oder auf dem Alexanderplatz. Vor 25 Jahren begann eine neue Zeit. Was lernen aktive Freiheitskämpfer aus der Bewegung von 1989?

Die Angst ablegen, wie einen Mantel, der nicht mehr passt. Und auf Gewalt verzichten. Das sind die Ratschläge von Jens Reich, dem DDR-Bürgerrechtler und Naturwissenschaftler, an derzeit aktive und künftige Freiheitskämpfer. Reich, inzwischen 75 Jahre alt, erinnert sich im Tränenpalast auch an den „bitteren Abschied“ von seiner Tochter Stephanie in den 80er Jahren. Damals reiste sie über die Friedrichstraße in den Westen aus, ein Abschied für immer, dachten die Eltern und weinten. Wie Tausende vor und nach ihnen.

Jetzt steht Reich zum zweiten Mal in seinem Leben im Tränenpalast, der Gedenkstätte geworden ist. Auf Einladung der Stiftung Falling Walls und des Bundesinnenministeriums soll er zusammen mit politischen Akteuren aus Polen, Tunesien und Aserbaidschan die Bedingungen einer erfolgreichen Freiheitsbewegung ausloten. Viele Schüler sind gekommen, denn es geht nicht um trockene Geschichte, sondern die Analyse von Revolutionen der Vergangenheit, um die der Gegenwart, in Libyen oder der Ukraine, besser einschätzen zu können.

Innenminister de Maizière fühlte sich ausgeliefert

Innenminister Thomas de Maizière hat auch Erfahrungen mit dem Grenzübergang Friedrichstraße. Hier wartete er öfters auf sein Visum für die Einreise nach Ost-Berlin, fühlte sich einer undurchschaubaren Bürokratie ausgeliefert und war sich doch des Privilegs bewusst, überhaupt reisen zu dürfen. Die Bedingungen für die Wende 1989 seien günstiger gewesen als man sie damals von außen vermuten konnte, so sein Resümee. Auch heute sei das „Streben nach Freiheit“ grundlegend für das Funktionieren der Demokratie, sagt de Maizière. Bei Wahlbeteiligungen unter 50 Prozent sei diese Einsicht offenbar nicht mehr sehr weit verbreitet. Er spricht frei, ohne Manuskript.

Ort der Erinnerung. Im Tränenpalast wird gezeigt, wie sich die DDR abschottete und am Ende durch massenhafte Flucht implodierte.
Ort der Erinnerung. Im Tränenpalast wird gezeigt, wie sich die DDR abschottete und am Ende durch massenhafte Flucht implodierte.

© Doris Spiekermann-Klaas

Tagesspiegel-Berlinchef Robert Ide, der die Diskussion leitet, war 1989 Jugendlicher. Er hätte gerne „zwei Wochen im Tränenpalast gewartet“, um einmal in den Westen fahren zu dürfen. Zu fliehen, fehlte ihm der Mut. Stattdessen flüchtete er sich mit seinen Kumpels auf den Fernsehturm, um eine barrierefreie Sicht auf Kreuzberg und Tiergarten zu genießen.

Andere, wie der Pole Janusz Grabowski, bezahlten ihren Mut mit dem Gefängnis. Als Student nahm Grabowski 1980 an einer Reise nach Ost-Berlin teil. Nach dem offiziellen Teil wurde er zu einer privaten Feier eingeladen. Unter dem Einfluss polnischen Wodkas wurden erste Honecker-Witze gerissen, anschließend schaute man gemeinsam West-Fernsehen. Die Tagesschau berichtete ausführlich über die Proteste der polnischen Gewerkschaftsbewegung. Davon hatten die Studenten noch nichts mitbekommen. Zurück in Polen fuhr Grabowski sofort nach Danzig, wo er Verwandte hatte, ging ans Tor der Lenin-Werft und sah, dass hinter dem Tor „der Bolschewismus endete“ und die Freiheit begann. Das zu sehen, „ging sofort ins Blut“, erzählt Grabowski, diese Sucht nach Freiheit habe ihn nie wieder verlassen.

Die Wende war "ein wunderbares Erlebnis"

Das vernimmt Jens Reich mit einem wissenden Lächeln. So hat auch er das Wendejahr in Erinnerung, „als eine Art Rausch“. „Ein ungemein aufregendes, wunderbares Erlebnis. Der mürrische Gesichtsausdruck aus dem Alltag war weg.“ Die Angst zu reden war verschwunden.

Besma Mhamdi, Studentin aus Tunesien, und Emin Milli, Blogger aus Aserbeidschan, holen die Diskussion in die Gegenwart. Tunesien habe sich nach ersten Rückschlägen erneut auf einen demokratischen Pfad begeben und sei froh über jede Unterstützung aus Europa, sagt Mhamdi, die als Tochter eines Gastarbeiters in Wolfsburg geboren wurde. Emin Milli geht mit den Regierungen der Europäischen Union, insbesondere der deutschen, ungleich härter ins Gericht.

Putin und sein Amtskollege Alijew aus Aserbaidschan würden alles tun, um demokratische Bewegungen im eigenen Land wie in den Nachbarländern zu stoppen. Dazu würden sie „europäische Politiker kaufen“ und durch den Aufbau großer Konzerne Einfluss nehmen. Europäische Institutionen würden durch Putins Netzwerk „aus Angst und Korruption von innen zerstört“. So sei es absurd, dass Aserbaidschan mit seiner repressiven Politik und Hunderten von politischen Häftlingen derzeit den Vorsitz im Europarat innehabe, der die Menschenrechte verteidigen soll. Milli saß selbst mehrfach im Gefängnis. Derzeit arbeitet er von Berlin aus für die Oppositionsbewegung in seinem Land.

"Erste gelungene Freiheitsrevolution" in Deutschland

Milli spricht die Schüler, für die der revolutionäre Herbst 1989 oft nur ein Kapitel in den Geschichtsbüchern ist, direkt an. „Wenn Sie denken, dass die Freiheit erreicht wurde und von jetzt ab immer da sein wird, dann irren Sie sich.“

Diese emphatischen Appelle, sich zu engagieren, werden von nüchternen Analysen der Wissenschaftler unterfüttert. Hanno Hochmuth vom Zentrum für Historische Forschung in Potsdam und Claudia Matthes von der Humboldt-Universität machen deutlich, dass ein Bündel an Faktoren zum Erfolg einer Demokratiebewegung führen kann, aber die politische Entwicklung könne sich auch in umgekehrter Richtung vollziehen. Siehe Ungarn.

Nicht die Wiedervereinigung hätten sie 1989 im Sinn gehabt, erzählt Jens Reich, nicht einmal das Regime hätten sie stürzen wollen, aber Freiheiten forderten sie ein und ein Ende des Spitzelregimes. Für Reich steht das Jahr 1989 für die „einzige gelungene Freiheitsrevolution in der deutschen Geschichte“.

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