
© Ingo Salmen
Der Spritzen-Baum von Kreuzberg: Gleich neben dem Szenekiez zeigt sich das Drogen-Elend Berlins
Druckraum im Grünen: Annähernd 50 Spritzen stecken in der Rinde eines Baumes auf dem Mittelstreifen der Gneisenaustraße. Wo Süchtige sich ihren Schuss setzen, kommen täglich Kinder vorbei.
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Dort, wo das Drogen-Elend seine Nische gefunden hat, gilt Tempo 30. Autofahrer sollen tagsüber auf der Kreuzberger Gneisenaustraße langsam machen, hier kommen laufend Kinder vorbei – auf dem Weg zum Leibniz-Gymnasium oder zur Reinhardswald-Grundschule. Auch der Eingang zum U-Bahnhof ist gleich in der Nähe.

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Wovor die Kinder niemand warnt: In der Grünanlage auf dem Mittelstreifen, nur ein paar Meter hinter dem Verkehrsschild, setzen sich offenbar Süchtige regelmäßig ihren Schuss. Davon zeugt ein Baum, der übersät ist mit Einwegspritzen, die die Drogenabhängigen anscheinend in die Rinde gesteckt haben.

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Vom „Drogen-Baum von Berlin“ spricht die „Bild“-Zeitung, die am Montag zuerst über den Druckraum im Grünen berichtete. Annähernd 50 Spritzen steckten auch am Abend im Stamm, als der Tagesspiegel den Ort in Augenschein nahm. Ob das Versteck von einem oder mehreren Suchtkranken benutzt wird, lässt sich nicht erkennen.
In dem kleinen Gebüsch zeigt sich ein Bild der Verwahrlosung. Rund um den Baum liegen aufgerissene Spritzenverpackungen, dazu jede Menge leerer Ampullen für Kochsalzlösung, die „für den Drogenkonsum konzipiert“ wurden, wie der Konstanzer Hersteller auf seiner Website schreibt.
„Rauchen ist tödlich“, steht auf einem leeren Tabakbeutel, daneben liegen eine ausgetrunkene Flasche Wodka und zwischen Laub und Ästen weitere Spritzen sowie Einweglöffel aus Blech, mit denen Heroin, Crack oder andere Drogen aufgekocht werden können.
Auf einem Tupfer sind noch leuchtend rote Blutflecken zu sehen, eine alte Jeans ist halb im Boden verscharrt. Aus unerfindlichen Gründen liegt ein Stapel Fahrradreifen herum, angelehnt an einen aufgerissenen Karton mit Drucker-Toner.
Auch am Dienstagmittag ist das Gerümpel noch überall auf dem Boden verteilt. Nur die Spritzen hat inzwischen jemand aus dem Baumstamm gezogen. Wer sie beseitigt hat, ist zunächst unklar. „Wir vermuten, dass die Spritzen zuständigkeitshalber von der BSR entsorgt wurden“, teilt das Bezirksamt am Nachmittag mit, „inzwischen sollten auch die umliegenden Verschmutzungen beseitigt sein.“
Touristen wollen zum Bergmannkiez – und treffen auf Süchtige
Der grüne Mittelstreifen auf der West-Ost-Achse von Kreuzberg nach Neukölln ist lange schon ungepflegt. Entlang der Straße nächtigen teilweise Obdachlose in Hauseingängen. Eigentlich handelt es sich hier um den beinahe bürgerlichen, weitgehend gentrifizierten Teil Kreuzbergs, fernab der Hotspots Kottbusser Tor und Görlitzer Park. „61“ genannt, nach dem alten Postleitzahlbezirk, im Gegensatz zu „36“.
Der Marheinekeplatz mit seiner Markthalle und dem Flohmarkt am Wochenende ist nicht weit. Viele Familien leben im alternativen Szeneviertel, am Wochenende steigen auch Touristen an der Gneisenaustraße aus der U7, um den Bergmannkiez zu besuchen. Im Bahnhof selbst treffen sie dabei nicht selten auf Süchtige.

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Am Dienstag geht dort ein zotteliger Mann auf wartende Passagiere auf dem Bahnsteig zu, wünscht einen „guten Morgen“ und bittet um Kleingeld. Als er keines bekommt, zieht er weiter und flucht etwas von „ohne Herz“ und „Schwanz“. Ein anderer Mann, seine bemalte Gitarre um den Hals gehängt, ist auf einer Bank eingeschlafen. Mit der linken Hand hält er noch die Flasche „Sterni“ fest, die er neben sich abgestellt hat.
„So schlimm wie in den letzten Jahren war das hier noch nie“, sagt ein Mann, der seit 17 Jahren als Verkäufer in der Dönerbude am westlichen Ausgang des U-Bahnhofs arbeitet, am Morgen dem Tagesspiegel. „Es wird viel im Gebüsch konsumiert, aber nichts dagegen getan.“ Es sei ein „empfindliches Thema“, sagt er. „Ich will mit den Leuten, die den Mist nehmen, nichts zu tun haben.“
Thomas Schmitz kommt gerade die Schleiermacherstraße hoch, hinter ihm das Gymnasium, vor ihm die Grundschule. Jetzt steht er auf dem Grünstreifen, nicht weit von dem Baum entfernt, der bis zum Morgen noch voller Spritzen war. „Die Leute, die in die U-Bahn steigen, wird das beschäftigen“, sagt er. „Mich gehen die Konsumenten nichts an.“ Schmitz ist 75, wohnt seit 35 Jahren im Kiez. „Ich bin jeden Tag in der Marheineke-Markthalle und trinke da meinen Kaffee. Das ist ‚das Dorf’“, erzählt er. „Auf dem Weg zurück überquere ich die Gneisenaustraße und den Grünstreifen nur schnell.“ Es ist kein Ort zum Verweilen.

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„Das Grünflächenamt unternimmt nichts, um den Ort für Drogenkonsumenten unattraktiv zu machen“, zitiert die „Bild“ eine Anwohnerin. „Es wurde seit Jahren keine Instandhaltung des Grünstreifens unternommen, hinter jedem Busch wird gespritzt. Gegenüber der Reinhardswald-Grundschule gibt es das gleiche Problem.“
Bezirksamt: Konsumräume fehlen in ganz Berlin
Der Bezirk sei „hier im Rahmen unserer Möglichkeiten und Zuständigkeiten übermäßig aktiv“, teilt das Bezirksamt am Dienstag zum Drogenproblem entlang der Gneisenaustraße mit. Es verweist jedoch auf die Dimension bis hin zur internationalen organisierten Kriminalität. „Notschlafstellen am Tag und konsumakzeptierende Angebote fehlen in ganz Berlin“, heißt es zu Hilfsmaßnahmen für die Suchtkranken. Dafür seien jedoch die Sozial- und die Gesundheitsverwaltung des Senats zuständig.
Der Bezirk habe eine Reihe von Maßnahmen wie Sozialarbeit und Spritzensammelprojekt umgesetzt, wobei offenbleibt, was davon genau davon im Kiez um die Gneisenaustraße ankommt. „Sollten diese Mittel im kommenden Haushalt nicht mehr zur Verfügung stehen, können diese Projekte nicht weitergeführt werden und es droht eine Verschlechterung der Situation“, schreibt das Bezirksamt warnend in Richtung des Landes.
Nur knapp äußert sich das Bezirksamt zur Frage, wie es gegen die Verwahrlosung des Bereichs vorgeht. „Die Reinigung des Mittelstreifens gehört in die Zuständigkeit der BSR“, heißt es nur. Zur Grünpflege kein Wort.
Ein Grünstreifen, um den sich niemand kümmert
Erst zu Jahresbeginn fanden nur wenige Meter westlich des Spritzen-Baums umfangreiche Grünarbeiten statt. Die BVG ließ Ende Februar mehrere, teils mehr als hundert Jahre alte Platanen und Linden fällen, weil sie einerseits krank waren und andererseits der Sanierung der Tunneldecke über dem U-Bahnhof im Wege standen.

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Ein halbes Jahr später ist von Tunnelarbeiten noch lange nichts zu sehen. Dafür ist an den Baumstümpfen schon wieder Blattwerk gewachsen, das Grün wuchert derart stark, dass es bereits über dem Asphalt hängt. Autos, die die Kreuzung überqueren wollen, müssen sich wegen der Sichtbehinderung in Bodennähe mitunter so weit vortasten, dass ihre Motorhaube in die Fahrbahn der Gneisenaustraße ragt und der fließende Verkehr ihnen ausweichen muss.
Dabei verhält es sich nicht anders als beim Spritzen-Baum im Gebüsch: Um den grünen Mittelstreifen der Gneisenaustraße scheint sich einfach niemand zu kümmern.
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