zum Hauptinhalt
Hans Joachim Albrecht

© privat

Nachruf auf Hans Joachim Albrecht: Der Vater der Sanddornkultur

Ich bin da, in deinem Tee, deiner Konfitüre, deiner Bodylotion. Nicht viele Menschen können solche Existenzbeweise führen.

Landauf, landab trinken sie Sanddornsaft und Sanddorn-Likör, essen Sanddorn-Marmelade, greifen zur Sanddorn-Creme, manche sogar zum teuren Weleda-Sanddorn-Duschbad, Tendenz von alldem: aufwärts. Und keiner weiß, wem er das alles verdankt: ihm, Hans Joachim Albrecht, dem Vater der europäischen Sanddornkultur. Diese stille Anwesenheit im Leben so vieler Menschen war ihm eine Freude. Ich bin da, in deinem Tee, deiner Konfitüre, deiner Bodylotion. Nicht viele Menschen können solche Existenzbeweise führen.

Dabei war ihm der Sanddorn keineswegs an die Wiege gepflanzt, im Gegenteil. Hans Joachim Albrecht ist ein Kind der Magdeburger Börde. Schwarzerde. Löß. Nur die Ukraine hat noch bessere Böden. Der Sanddorn dagegen wächst, wie sein Name schon sagt, auf so losem Untergrund, dass die Sprache ihm das Wort „Erde“ verweigert. Er gedeiht auf fast nichts, er braucht fast nichts. Das ist unsere Pflanze!, sagte sich die DDR, die viel Erfahrung hatte mit dem Fastnichts. Und was der Sanddorn daraus macht: ein Vitaminwunder. Zwischen 200 und 900 mg Vitamin C pro 100 g Fruchtfleisch. Die Zitrone schafft nur 50 mg. Eine creatio ex nihilo, gewissermaßen.

Überholen ohne einzuholen. Wenn die DDR ein botanisches Vorbild hatte, dann war es der Sanddorn. Und sie erteilte dem Leiter der Zuchtstation Gehölze, Hans Joachim Albrecht, in Berlin-Baumschulenweg Ende der 60er Jahre einen zukunftsweisenden Auftrag: Aus diesem widerborstigen Wildstrauch züchtest du eine richtige Kulturpflanze zum Wohle der Bevölkerung. Vitamine für die Arbeiterklasse!

Der Wanzlebener Junge schaute aus seinem Mansardenzimmer des schönen bürgerlichen Hauses, das seine Großeltern noch vor dem Krieg 1914 gebaut hatten, in den großen Garten. Er wusste schon bald, was da wuchs. Viele begnügen sich mit den Basisinformationen: Baum, Strauch, Blume, Wiese. Hans Joachim Albrecht hat das nie verstanden. Andere Menschen nennt man doch auch mit ihrem Namen, fragt, wie es ihnen geht. Zu wissen, wie jemand heißt, wie er lebt, ist die elementare Höflichkeit gegenüber unseren Mitgeschöpfen, auch den Blumen und Bäumen.

Der große Garten war Gegenwelt zum Krieg. Hier war Frieden. Doch die britischen Bomber, die nach Berlin wollten, flogen immer obendrüber. Fast jede Nacht musste Hans Joachim dann zur Schule laufen und abwarten, bis die Bomber wieder aus Berlin zurückkamen, diesmal viel leichter. So lange währte die „Brandwache“.

Späths Nachfahren

41 Jahre seines Lebens würde Albrecht später Berlins ältestem Betrieb angehören, der noch der nächsten S-Bahnstation seinen Namen gab: Baumschulenweg. 1720 gründete Christoph Späth mit 300 Talern eine Gärtnerei, die „Späth’sche Baumschule“, einmal die größte der Welt, die bedeutendste in ganz Europa. Als Hans Joachim Albrecht begann, regelmäßig Brandwachen in seiner Wanzlebener Schule zu halten, wurde in Berlin Christoph Späths Nachfahr, der Baumschulenbesitzer Hellmuth Späth, verhaftet. Die Gestapo hatte eine Agentin in sein Büro eingeschleust, er war bereits wegen öffentlicher Zweifel am Endsieg aufgefallen. Im Februar 1945, als der Wanzlebener Junge mit seinen Kameraden Panzergräben in der Börde aushob, wurde Späth im KZ Sachsenhausen erschossen.

Der Frieden kam friedlich nach Wanzleben. Vater Albrecht, Landrat, hatte den Feindalarm erst auslösen lassen, als die Amerikaner schon da waren. Zu spät für den „Volkssturm“. Nun wurden erst Amerikaner, dann Russen bei den Albrechts einquartiert, sonst keine besonderen Vorkommnisse. Doch im Frühjahr 1947 verlor die Familie ihr großes Haus und Hans Joachim den Garten seiner Kindheit: Die russische Kommandantur zog ein, später die Kreisstelle der Staatssicherheit.

Der nun 14-Jährige litt vielleicht am wenigsten unter dem Verlust, denn er war schon nicht mehr da. Was er denn werden wolle, hatte das Arbeitsamt gefragt, und Hans Joachim hatte mit größter Festigkeit, die man auch Alternativlosigkeit nennen könnte, geantwortet: Gärtner. Gärtner oder Förster. Wenige Jahre später wohnte er in Hellmuth Späths Villa in Vor-Ketzin an der Havel, die die junge DDR zum Lehrlingswohnheim erklärt hatte, und arbeitete auf dem Ketziner Gut, das nun Volksbaumschule „Ernst Thälmann“ hieß. Der junge Gärtner wusste genau, bei wem er da war. Den Namen Späth hatte er schon oft gehört, nicht nur von seinem Lehrmeister. Der Lehrling fiel auf. Vor allem, weil es nichts Wissenswerteres für ihn zu geben schien als noch das letzte Detail über die Existenzweise der Bäume. Der muss studieren!, befand ein alter Botaniker.

Da ist einer von Anfang an auf seinem ganz eigenen Weg, dem einzig richtigen, und er weiß es. Türen öffneten sich vor ihm, ohne dass er angeklopft oder gar versucht hätte, sie einzuschlagen. Beim Praktikum in Baumschulenweg gingen die anderen nach Feierabend nach Hause, er ging ins Arboretum. Das war seit 1879 der Schau-Baumgarten mit Exoten aus aller Welt. Der Leiter der Baumschule bemerkte dort den jungen Mann, der nach Feierabend lieber in Gesellschaft von Bäumen als in der Kneipe war.

Neben Gehölzen aller Art interessierte ihn noch etwas: das Schreiben über Gehölze aller Art. Die „Deutsche Gärtnerpost“ stellte ihn ein. Von seinem dunklen, schmalen Zimmer zur Untermiete in der Pasewalker Straße fuhr er in sein noch dunkleres Redaktionszimmer in der Reinhardtstraße unter einem Chefredakteur, der Schatten warf, wo er hinkam.

Die erste Alternative hieß Baumschule Altweddingen, Börde, ganz nah seinem Heimatort. Er bezog ein freistehendes Haus mit Garten, fast zwei Kilometer vom Dorf entfernt, leider ohne Strom, ohne Gas, ohne WC, ohne fließendes Wasser. Hans Joachim Albrecht und die Frau seines Lebens, die er soeben geheiratet hatte, überlebten hier den kältesten Börde-Winter des Jahrhunderts. Kurz nach Weihnachten fielen die Temperaturen so tief, dass kein gewöhnliches Thermometer sie mehr erfasste: unter minus 30 Grad. Und seine Frau erwartete ein Kind. Nie wurde es mehr Frühling als am Ende dieses Winters 1955 / 56.

„Dorniger Pferdetöter“

Und da fragte ihn der Leiter der Baumschule in Berlin-Baumschulenweg, ob er Lust habe auf Veränderung. Die Abteilung Vermehrung suche einen neuen Leiter. Der Verdienst war selbst für DDR-Verhältnisse eher gering, aber darauf kam es nicht an. Hans Joachim Albrecht wusste, wo er war: am richtigen Ort. Und als ihm 1964 die Leitung der Zuchtstation für Gehölze angeboten wurde, ahnte er, dass selbst richtige Orte noch Peripherien und eine Mitte haben.

Der Sanddorn, Hippophae rhamnoides, „Dorniger Pferdetöter“, ist natürlich ein Gehölz. Der deutsche Name registriert die nicht sehr attraktiven Merkmale: Dornen auf Sand. Mit kleinen bitteren Beeren. Das Mittelalter hielt den Strauch für giftig, gottgefällige Pflanzen sehen anders aus. Im 16. Jahrhundert sprachen die Gelehrten vom Oleaster germanica, was so viel heißt wie „Wilder deutscher Olivenbaum“, worin sich bereits das ganze botanische Elend dieses Landstrichs zusammenfasste. Albrecht besah die Oleaster germanica der DDR in allen Himmelsrichtungen. Dabei wusste bald jedes Kind, wo er vor allem zu finden war: „Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee“, sang Nina Hagen. Aber der Dendrologe wählte nicht den Hiddenseer für seinen ersten großen Kultivierungsversuch, überhaupt kein Küstengewächs. Er gab Sträuchern aus Leitzkau bei Zerbst, Sachsen-Anhalt, den Vorzug. Es folgten lange Versuchsreihen.

Er brauchte männliche und weibliche Pflanzen. Es genügte auch nicht, einen Strauch zu züchten, der als Dornenrückbildungsschauplatz voller möglichst großer Beeren von appetitlichstem Orange war, der Oleaster germanica musste sie auch freiwillig hergeben. Etwa beim Rütteln. Die meisten Sträucher hielten eigensinnig und dornbewehrt an ihren Früchten fest.

Geduld ist die Tugend des Gärtners. Geduld und Sorgfalt. Und sollten die Vitamin-Werte nicht noch etwas zu optimieren sein? Es war nicht der spektakuläre Vitamin-C-Gehalt allein. A, B, D, E, F, K sind auch drin. Und die Minerale, Tannine, Phospholipide. Nicht zu vergessen die Öle, insgesamt mehr als 100 bioaktive Substanzen. Hans Joachim Albrecht lernte von den Vögeln. Was denen am besten schmeckte, war auch am besten. Was die Vögel verschmähten, verfolgte auch er nicht weiter. Albrecht und Kollegen standen im Begriff, die DDR-Bevölkerung der Zukunft zur gesündesten weit und breit zu machen. 1979 war die erste Sorte da, die nicht nur seiner Mitarbeiterin Petra Müller noch immer die liebste ist: die Leikora. Leitzkauer Orange also!

Es folgten 1983 die Hippophae rhamnoides Hergo, Hippophae rhamnoides Pollmix 1 und Hippophae rhamnoides Pollmix 2, 1986 die Hippophae rhamnoides Pollmix 3. Wichtig war, dass die Beeren der verschiedenen Sträucher nicht zur gleichen Zeit reif wurden, sodass die Pflanzungen eine lange Erntezeit haben würden. Die Humboldt-Universität hatte inzwischen eine innovative Erntemaschine entwickelt, 1980 lieferten sie 3000 Leikora nach Ludwigslust. Die erste Sanddorn-Plantage entstand. Fläche: 3 Hektar.

1989 waren es bereits 150 Hektar Anbaufläche in der ganzen DDR. Und dann kam die Wende. Albrechts Primär-Zeitbegriff war immer der Rhythmus der Pflanzen gewesen, was einschloss, bei Frostgefahr im März um 3 Uhr nachts zur Baumschule zu fahren, um die Beregnung anzustellen. Die Eishülle würde die Blüten schützen. Aber sonst hieß Pfanzen-Zeit vor allem: warten. Und plötzlich, 1989, gingen alle Uhren schneller. Eine schöne Euphorie erfasste auch ihn, der allen Agitatoren ausgewichen, nie in die SED eingetreten war. Sein Vorbild waren auch diesbezüglich die Bäume: unparteiisches Dasein, tief in der Erde wurzelnd, mit der Krone frei in den Himmel ragend. Lufterdling. So sollten sie fortan alle leben können?

Dass die neue Gesellschaft seine Bäume und Sträucher nicht mehr wollen würde, auf diesen Gedanken kam er nicht. Nicht gleich. Die Treuhand besah 1990 die Zahlen des VEG Saatzucht Baumschulenweg, ungefähr so: 198 Hektar Betriebsfläche (sehr gut!), 130 davon bewässert (egal), Sortiment: 474 Laubgehölze, 176 Nadelgehölze, 156 Rosensorten, 150 Obstgehölze. Jahresproduktion: 40 000 Alleebäume, fast 1 Million Ziersträucher, 160 000 Obstgehölze, 450 000 Buschrosen und immer so weiter. Wozu denn das? Niemand brauchte mehr Ostpflanzen! Was aber neben all dem Grünzeug am meisten störte, waren die 140 Mitarbeiter. Kaum in die Treuhand überführt, wurde der älteste Gewerbebetrieb Berlins, die einst größte Baumschule der Welt, zum Verkauf ausgeschrieben. Ohne Menschen und Grünzeug: 198 Hektar bestes Bauland.

Baumland zu Bauland!

Und was wird aus meinen Pflanzen?, fragte Albrecht. Die meisten Mitarbeiter mussten in Kurzarbeit oder wurden ganz gekündigt, später alle über 50. Die Baumschule verwandelte sich in eine Baumsterbeschule. Jeden Augenblick konnte die große Planierraupe kommen. Der eben noch ausgezeichnete Züchter versuchte, seine besten Pflanzen zu retten, sie an Institute, Baumschulen und Gärtnereien zu geben, die nicht ganz so bedroht waren. Oder an Interessenten aus dem Ausland. Schließlich wurde die Baumschule an die soeben zu einschlägigem Zweck gegründete Admiral-Aktiengesellschaft verkauft: Baumland zu Bauland!

Albrecht und die anderen hätten ihren Betrieb niemals retten können. Dass er dennoch 1998 den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker durch die „Späth’sche Baumschule“ führte, hatte einen einzigen Grund: Die Erben der Familie Späth traten auf den Plan und engagierten den bestmöglichen Anwalt gegen die Treuhand, Christoph Rechberg. Die Fotos des Rundgangs von damals irritieren: Albrecht und von Weizsäcker sehen sich merkwürdig ähnlich, die gleiche längliche Gesichtsform, ein verwandter Ausdruck. Und doch war der eine bis eben nur ein vertriebener Gärtner.

Nach 1990 wurden die meisten Sanddorn-Plantagen im Osten stillgelegt: Jetzt haben wir richtiges Obst! Aber dann geschah es, Albrechts Ostbeeren, die Leikora und ihre Geschwister, eroberten nicht nur das europäische Ausland und die USA, sondern ganz still auch Deutschland, diesmal das ganze. Sie breiteten sich aus wie das weitverzweigte Sanddornwurzelgeflecht unter der Erde. Und das ist nicht zuletzt denen zu verdanken, die einmal bei Hans Joachim Albrecht ihren Beruf gelernt haben, wie Petra Müller, die heute ihre eigene Baumschule für Wildobst in Friedersdorf führt. Natürlich mit den alten Sanddornsorten.

Dass seine Verabschiedung aus der Baumschule nach vier Jahrzehnten nicht so würdelos war wie die vieler anderer, lag am Zeitpunkt. 1997 hatten die Späths endgültig gewonnen. Sie wussten, wer sie da verließ.

Aber kann ein Dendrologe in Rente gehen? Albrecht erinnerte sich an seine alte Zweitleidenschaft aus den Tagen der „Deutschen Gärtnerpost“. Sein Buch „Wildes Obst“ wurde zum Bestseller. Und immer war seine Frau Lore bei ihm, zusammen, das wussten sie, schafften sie alles, auch die Eiserne Hochzeit im September 2019. Er hatte schon einen Schlaganfall, Nierenkrebs und mehr überstanden, so würde es auch mit der Hüft-OP sein. Gemeinsam fuhren sie im Frühjahr 2020 zur Hüft-Reha, als Lore Albrecht eine schwere Bronchitis bekam. Sie mussten die Reha abbrechen, denn man wollte keine Personen mit Infektionen im Haus. Corona-Lockdown. Und zu Hause: kein Arzt. Als das Krankenhaus sie endlich aufnahm, war es wohl schon zu spät. Und er durfte sie nicht besuchen, über Wochen. Sie starb, ohne dass er noch einmal bei ihr war. Im August wird der Sanddorn reif. Einmal hat er es ohne sie erlebt. Jetzt ist er vorher gegangen.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false