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Alternatives Wohnen: Der Wagenburgfrieden wackelt

Zwölf Siedlungen auf Rädern gibt es in Berlin, doch viele sind bedroht. Ein Besuch im „Schwarzen Kanal“.

In den hohen Gräsern und blühenden Büschen flattern zwischen den bunten Wagen Schmetterlinge umher. Vor einer Holzhütte liegt, mit einem langen Wollfaden lose angebunden, ein großer Hund. Ein Hauch Zirkusromantik weht über diesen Ort, und schon sein Name klingt nach Abenteuer: „Schwarzer Kanal“.

Ob dies eine ironische Entlehnung bei der gleichnamigen politisch-agitatorischen DDR-Sendung ist oder eine Anspielung auf das manchmal so dunkle Wasser der Spree, an der der Wagenplatz im Dreieck zwischen Kreuzberg, Mitte und Friedrichshain liegt – genau weiß das heute nach 20 Jahren niemand mehr. Sicher ist nur, dass das Gelände an der Michaelkirchstraße mit seinen 31 Behausungen – bunte Bauwagen, kleine Busse und selbst gezimmerte Hütten – für 25 Menschen zwischen 25 und 38 Jahren seit langem ein Stück Heimat bedeutet.

Zwar mit Dusch- und Toilettenhäuschen samt fließend Wasser, mit Briefkasten am Eingangszaun und wöchentlicher Müllabfuhr, ansonsten aber mit der vielleicht größtmöglichen Wohnfreiheit, die sich in einer Großstadt finden lässt. „Es ist schön, so viel draußen im Grünen zu sein. Und weil alles sehr einfach ist, muss man sich viel helfen. Wie in einem kleinen Dorf“, sagt Nadine Koch. Die 34-Jährige lebt seit fast fünf Jahren auf Wagenplätzen, der „Schwarze Kanal“ ist ihr dritter. Er ist eine von insgesamt zwölf Bauwagensiedlungen in Berlin, auf denen zurzeit 320 Menschen leben. Die größten sind die „Rollheimersiedlung Pankgräfin“ in Pankow und das „Wagendorf Wuhlheide“.

Auf acht Quadratmetern wohnt Koch in ihrem alten Wohnbus, in den die selbständige Schlosserin unter anderem eine Dachluke und eine Heizung eingebaut hat. „Der krassen Isolation und Anonymität in der Großstadt“ misstraut die gebürtige Erfurterin. Sie glaubt an die soziale Natur des Menschen: Gemeinsam mit den anderen Bewohnern, viele ebenfalls selbständige Handwerker, will sie mit dem „Schwarzen Kanal“ ihren Beitrag zu einem besseren, freundlicheren Berlin leisten: Unter anderem mit einer Selbsthilfe-Fahrradwerkstadt, einer veganen Volksküche, dem queeren Film- und Varietéfestival sowie antirassistischer und antifaschistischer Arbeit.

Ihre Vision vom besseren Leben in der Gemeinschaft ist jedoch akut gefährdet. Der Eigentümer des Geländes, der Baukonzern Hochtief, hat dem alternativen Wohnprojekt zum Ende des Jahres gekündigt. Dem Unternehmen mit Sitz in Essen gehören an der Köpenicker Straße insgesamt drei Gelände. Auf einem davon soll ab Frühjahr 2010 die neue Zentrale der vier Berliner Tochtergesellschaften für 717 Mitarbeiter gebaut werden. Die Fläche des „Schwarzen Kanals“ soll dann für anderthalb Jahre als sogenannte Baustelleneinrichtungsfläche dienen, danach sollen dort unter anderem Wohnungsbauprojekte entstehen. „Diese Flächenentwicklung gehört zu den Auflagen, unter denen die Hochtief das Gelände vor sieben Jahren gekauft hat“, so Unternehmenssprecher Christian Gerhardus. „Doch wir sind sehr bemüht, eine gute Lösung für alle Beteiligten zu finden.“ Die solle unter „sechs Augen“, gemeinsam mit den Bewohnern und dem Bezirk, entwickelt werden. Ephraim Gothe (SPD), Baustadtrat in Mitte, ist zur Hilfe bereit und möchte gemeinsam mit den angrenzenden Bezirken Ausweichmöglichkeiten finden. Er fände es „logisch“, dass die Bewohner Grundstücke in Marzahn, welche die Hochtief zunächst als Alternativen angeboten hatte, abgelehnt haben: „Natürlich ist so ein sozio-kulturelles Projekt an seinen Standort gebunden, und es ist auch möglich, dass manche Menschen in Marzahn mit wenig Sympathie auf solche links-alternativen Lebenskonzepte reagieren.“ Bewohnerin Koch drückt ihre Bedenken drastischer aus: „Wir wollen uns schließlich von den Rechten dort nicht abfackeln lassen.“

Sie erwartet, dass Hochtief angemessene, standortnahe Alternativvorschläge für ein neues Grundstück unterbreitet. „Oder die Stadt könnte die Bürgschaft übernehmen, wenn ein anderer Eigentümer uns einen Zwischennutzungsvertrag anbietet“, so Koch. Denn die meisten Grundstückseigner stünden Wagenburgen immer noch sehr skeptisch gegenüber. Allzu viel Zeit, einen neuen Platz zu finden, bleibt nicht mehr, dann kommt der Winter. Und mit der Kälte die Zeit mangelnder Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit. Ein alter Bauwagen steht schon auf der „Renovierungsposition“: Beim „Dachpappen-Date“ helfen Bewohner und Freunde mit, den Wagen winterfest zu machen – einen pinkfarbenen Anstrich gibt es gleich dazu.

Auch die internationalen Besucher, von denen manche nur einige Tage, manche Wochen oder auch Monate in einem der drei Gästewagen verbringen, spüren die Sorgen und Ängste. Jan kommt aus Belgien, er ist einer der wenigen Männer auf dem Wagenplatz und weiß noch nicht, wie lange er bleibt. „Die offene Atmosphäre hier ist sehr wichtig für mich“, sagt er. Hier könne er sich selbst finden, das Wort „Coming out“-Prozess fällt. Amelie hat die Wagenburg im vergangenen Sommer bei einem Berlin-Besuch kennengelernt, nun ist die Kanadierin zurückgekehrt und möchte einige Monate hier leben: „Dieser Ort gibt mir ein fantastisches Gefühl und eine Hoffnung: Dass ein Zusammenleben unter den Zeichen von Selbstbestimmung möglich ist“, sagt die 26-Jährige. Eine solche Vielfalt an Lebensmöglichkeiten wie in Berlin kenne sie aus ihrer Heimat nicht.

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