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Berlin: Die Angst sitzt mit im Gerichtssaal

Manche Zeugen brechen in Tränen aus, andere bleiben seltsam vage. Gestern sagten Nachbarn und Freunde von Hatun Sürücü im Mordprozess aus

Leichter gesagt als getan. Die Zeugin möge sich doch beruhigen, mahnt der Richter in väterlich-strengem Ton. Es hilft nichts. Gülsah S., die einst beste Freundin von Hatun Sürücü, weint hemmungslos. Immer wieder blickt die 26-Jährige im Gerichtssaal zu den drei Angeklagten, schüttelt kurz den Kopf, dann bricht es aus ihr heraus: „Ich hab’ Angst! Ich hab’ ein achtjähriges Kind! Wenn der schon seine eigene Schwester umbringt – wer weiß, wer der Nächste ist?“

Statt einer Antwort gibt es eine Pause. Als Gülsah S. den Saal verlassen will, zischt ihr Ayhan S., der jüngste der drei angeklagten Brüder, etwas auf Türkisch zu. Die junge Frau schreit kurz auf. „Er hat mich Hure genannt“, übersetzt sie. Ayhan schüttelt den Kopf. „Das stimmt nicht! Mein Stuhl hat beim Aufstehen ein Geräusch gemacht.“

Der Richter wirkt verärgert, hat heute aber noch Wichtigeres zu klären. Seine Kammer hat an diesem Mittwoch „Zeugen aus dem Umfeld des Opfers“ geladen, darunter die Nachbarn von Hatun Sürücü, zwei ihrer Freundinnen und ihren letzten Partner. Sie alle beschreiben die 23-jährige Deutsch-Türkin, die am 7. Februar mit drei Schüssen in den Kopf getötet wurde, mit ähnlichen Worten: selbstbewusst, fröhlich, humorvoll, offen. Über ihre Probleme habe Hatun aber nur selten gesprochen, sagt Gülsah S. „Sie hat alles in sich reingeschluckt.“

Hatun Sürücü musste viel mit sich selbst ausmachen, seitdem sie sich gegen ihre Familie aus Ostanatolien aufgelehnt hatte. Der Staatsanwalt glaubt, dass die drei Brüder – 19, 24 und 26 Jahre alt – ihre Schwester ermordet haben, weil sie den Lebensstil der jungen Frau als „Kränkung der Familienehre empfanden“. Ayhan S., der Jüngste, hat die Tat gestanden, die älteren Brüder beteuern ihre Unschuld.

Angst hin, Angst her. Schließlich atmet Gülsah S. durch und sagt: Hatun habe große Angst vor ihren älteren Brüdern gehabt. Weil sie von ihnen bedroht, früher auch geschlagen und missbraucht worden war. „Alpaslan hat sie betatscht“, sagt Gülsah S. Um damit klarzukommen, habe Hatun Sürücü eine Therapie besucht. Vor ihrem 26-jährigen Bruder Mutlu habe sich Hatun wegen seines strengen Glaubens besonders gefürchtet, sagt die Freundin: „Er war im Ausland, da wo bin Laden ist.“ Bei der Polizei habe sie damals „aus Angst“ nicht die Namen der Brüder genannt, sagt Gülsah, aber heute stehe sie dazu. Dann weint sie wieder.

Ganz unberechtigt ist die Furcht von Gülsah S. nicht. Die wichtigste Zeugin der Anklage, eine 18-jährige Schülerin, lebt heute im Zeugenschutzprogramm, ebenso wie ihre Mutter. Und vielleicht bleiben deshalb auch die Antworten der anderen Zeugen oft seltsam vage. „Über ihre Familie hat sie nicht gesprochen“, sagt Hatuns Freundin Katrin (21). „Ich dachte, mit ihren Brüdern wäre wieder alles okay“, sagt Timur S. (34), mit dem Hatun seit Silvester zusammen war. Den sexuellen Missbrauch hätte Hatun Sürücü ihm gegenüber zwar einmal erwähnt, „aber Details“ habe er nie erfahren.

Timur S. ist ein bulliger Typ, vorbestraft wegen Drogenhandels. Er sagt, dass er Hatun Sürücü nach islamischem Recht heiraten wollte. Dass sich Hatun ihre Piercings aus Zunge und Lippen entfernt habe, weil er es so wollte. Dass er ihre Briefe öffnete und las. Ob Hatun Sürücü Angst hatte, will der Richter wissen? Oder sterben wollte? Timur S. nickt. „Ich möchte tot sein“, habe sie eines Morgens beim Kaffee gesagt. „Dann spring doch aus dem Fenster“, hat Timur S. seiner Freundin geantwortet. Aber das war, wie er sich zu sagen beeilt, ironisch gemeint.

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