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Berlin: Die Erwartung zählt

Von Jörg-Peter Rau Namen für Namen liest Manfred Fischer aus dem großen schwarzen Totenbuch vor. Nach jedem Namen steigt eine kleine Wolke kondensierenden Atems vor ihm auf.

Von Jörg-Peter Rau

Namen für Namen liest Manfred Fischer aus dem großen schwarzen Totenbuch vor. Nach jedem Namen steigt eine kleine Wolke kondensierenden Atems vor ihm auf. Es ist klamm an diesem Totensonntag im kleinen Oval der Kapelle der Versöhnung auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße. Die Lehmkirche hat keine Heizung, und nach dem Gottesdienst drängen die Besucher nach draußen in die fahle Novembersonne. Doch Pfarrer Fischer holt die Gemeinde nochmals in die Kirche. Denn nach dem Gottesdienst soll die Aktion „Memento Mori“ vorgestellt werden - Menschen sollen sich zu Lebzeiten ein Kunstwerk bildhauern lassen, das anschließend als Grabstein dient und irgendwann wieder in einen privaten Rahmen zurückkehren kann (der Tagesspiegel berichtete).

Jürgen Rennert, Leiter des Kunstdienstes der evangelischen Kirche, stellt die am Projekt beteiligten elf Künstler vor und trägt das ganze lange Barock-Gedicht von Johann Rist vor: „O Ewigkeit, du Donnerwort“ beginnt es und endet mit „Nimm mich, wenn es dir gefällt, Herr Jesu in dein Freudenzelt!“ Dann wieder draußen, kommt es zu ersten Gesprächen zwischen Künstlern und Interessenten, die die ungewöhnliche Aktion unterstützen wollen.

Im Gottesdienst hatte Fischer das Thema bereits vorbereitet: Am Totensonntag „richten wir unseren Blick über die Gräber hinaus“, sagt er bereits zu Beginn. In Psalm 90, der zu Beginn der Messe im Wechsel gebetet wird, heißt es: „Lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Im ersten Lied singt die Gemeinde ganz flott und ohne Pathos „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig/ist der Menschen Leben./Wie ein Nebel bald entstehet/und auch wieder bald vergehet/so ist unser Leben, sehet.“ Überall also Memento Moris, Erinnerungen an den Tod.

Gerne setze sich die Gesellschaft mit den Rändern des Lebens nicht auseinander, sagt Manfred Fischer dann in der Predigt. Anfang und Ende des Lebens würden ins Private verdrängt, in Krankenhäuser und Altersheime.

Und der Wunsch nach einem pflegeleichten Grab sei verständlich und zugleich betrüblich - künde der Grabstein eines Christen doch von der „Kunst zu leben, die Anfang und Ende kennt“. Und von der Erwartung des Paradieses, das auch im Evangelium dieses Totensonntags verheißen wird.

„Diese Erwartung ändert alles“, macht Fischer Sinn und Charakter christlichen Lebens und Sterbens deutlich.

Unterbrochen wird die Predigt des Pfarrers immer wieder von kleinen meditativen Orgelphrasen, die auf die Gesänge des Gottesdienstes Bezug nehmen, und zum Ende singt die Gemeinde ein Lied, das bereits auf das Kommende weist: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Es wird in vielen Gemeinden auch in der Vorweihnachtszeit gesungen. Kommenden Sonntag beginnt ein neues Kirchenjahr: Erster Advent.

Jörg-Peter Rau

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