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Bernhard Schlink

© Kai-Uwe Heinrich

Bernhard Schlink zu Pro Reli: "Die Gräben werden danach tiefer sein"

Bernhard Schlink fürchtet, dass der Religionsunterricht es nach dem Volksentscheid in Berlin nicht leichter haben wird. Der Rechtsprofessor und Schriftsteller im Interview.

Professor Schlink, Sie sind Christ und in der Evangelischen Kirche verwurzelt. Haben Sie Verständnis dafür, wie sich die Kirchen in der Pro-Reli-Kampagne engagieren?



Manche Argumente, mit denen die Kampagne geführt wird, haben mich entsetzt. Die Lüge, die Berliner Regelung widerspreche dem Grundgesetz, die Entstellung, Religion müsse ein ordentliches Lehrfach werden, damit der Staat endlich die notwendigen Kontrollen ausüben könne, die Rote-Farbtöpfe-Plakate im Stil der Rote-Socken-Hetze – all das finde ich unwürdig. Ich hatte gehofft, die Kirchen würden für ihr politisches Engagement eine wahrhaftigere Sprache finden als die politischen Parteien.

Wie hat der evangelische Bischof Huber auf die Vorwürfe reagiert, gelogen und entstellt zu haben? Haben Sie darüber mit ihm gesprochen?

Nein, wir haben darüber nicht gesprochen.

Sie hatten doch früher viel miteinander zu tun, haben gemeinsam Seminare abgehalten.

Huber hat vermutlich ebenso wenig Verständnis dafür, dass ich die Kirchen bei ihrem Kampf für diese Sache kritisiert habe, wie ich dafür, dass die Kirchen ihren Kampf auf diese Weise führen. Überdies begegnet mir bei den Kirchen eine eigentümliche Freund-Feind-Zuspitzung des Konflikts, in der ich als Kritiker zu den Feinden gehöre.

Wie wichtig ist Religion für eine moderne Gesellschaft?

Es ist wichtig, dass in einer modernen Gesellschaft die, die religiös sind, ihren Glauben für sich leben und auch in die Öffentlichkeit tragen können. Zum Reichtum der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gehört auch Religion.

Welche Rolle kann Schule dabei spielen, Werte zu vermitteln?

Sie vermittelt Wissen über Werte und übt Werte ein. Ich verstehe auch Religions- und Ethikunterricht nicht als Moralunterricht des gehobenen Zeigefingers. Auch in diesem Unterricht geht es darum, Wissen über Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln. Toleranz setzt Wissen voraus.

Dass ich jemanden nicht umbringen soll im Namen der Ehre – um das zu wissen, brauche ich doch keinen Ethikunterricht.

Ehre ist ein gutes Thema für den Ethikunterricht! Aus welchen Traditionen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen kommt die Vorstellung von Ehre, die einen Mord rechtfertigt? Welche Rolle spielt Ehre in der vormodernen und in der modernen Welt? Worin findet ein Mensch heute seine Ehre? All das ist wichtig, wenn man auch den Kindern, die aus einer anderen als unserer Tradition mit einem anderen als unserem Ehrverständnis stammen, klarmachen will, dass Ehrenmord nicht nur strafbar, sondern schlechterdings unerträglich ist.

Wo sehen Sie im jetzigen Modell des freiwilligen Unterrichts die Chance für die Kirche?

Der freiwillige Religionsunterricht könnte sein religiöses Profil schärfen. Der Religionsunterricht, von dem ich von den Kindern meiner Freunde und Bekannten höre, ist ganz oft ein religiös wenig verbindlicher Gutmenschenunterricht. Die Beschäftigung mit Fremden- und Frauenfeindlichkeit, Verantwortung in Beziehungen, Gerechtigkeit in der Arbeitswelt – diese und ähnliche Themen haben im Ethikunterricht ihren besseren Ort. Im Religionsunterricht könnte es entschiedener und auf höheren Niveau um das Eigentliche gehen: die Religion – auch um der Kinder willen, die der Gutmenschenunterricht religiös unbefriedigt lässt. Ich bedauere, dass die Kirchen diese Chance nicht sehen, sondern es als Kränkung nehmen, nicht den Status zu haben, den sie in anderen Bundesländern haben.

In Brandenburg, wo Sie das Land damals im Prozess gegen die Kirchen vertraten, ist das Fach „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde“, kurz LER, längst eingeführt. Was könnte man denn aus Brandenburg in Berlin übernehmen?

Wir brauchen einen Studiengang für Ethiklehrer, wie Brandenburg ihn für LER-Lehrer hat. Die Ausbildung zum Ethiklehrer ist eine wissenschaftlich anspruchsvolle Aufgabe, die mit Engagement an den Universitäten betrieben werden muss.

Sie haben vor einigen Jahren den Senat gegen die Islamische Föderation vertreten. Es ging um die Frage, ob die Föderation eine Religionsgemeinschaft sei. Sie hat das Verfahren gewonnen und unterrichtet inzwischen etwa 4500 Grundschüler in Berlin, ohne dass das Land sie richtig kontrollieren kann. Zahlen wir da nicht einen sehr hohen Preis für unser spezielles Berliner Modell, bei dem Religions- und Weltanschauungsunterricht allein in der Verantwortung der Gemeinschaften stattfindet?

Das muss so nicht sein. Das Land könnte diesen Unterricht, der in öffentlichen Schulen stattfindet, genau so kontrollieren wie einen Unterricht im Rahmen eines Wahlpflichtfachmodells. Der Staat, der Gemeinschaften freiwillig seine Schulen für Religionsunterricht öffnet, ist frei, ihnen vorzugeben, dass sie dabei die Regeln zu beachten und den Kontrollen zu genügen haben, die auch bei der Erteilung von Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach gelten.

Nimmt er diese Möglichkeit wahr? Tut er genug, um die Islamische Föderation zu kontrollieren?

Das kann ich nicht in allen Einzelheiten beurteilen. Mir scheint aber, dass nicht getan wird, was getan werden könnte. Gewiss nicht bei der Lehrerausbildung – an die Lehrer, die in Berlin freiwilligen Religions- oder Weltanschauungsunterricht unterrichten, werden nicht dieselben oder auch nur ähnliche Anforderungen gestellt wie in Ländern, wo Religion ordentliches Lehrfach ist, obwohl es möglich wäre. Noch mal: freiwilliger Religionsunterricht kann vom Staat unter dieselben Vorgaben gestellt werden wie Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach.

Vielleicht bliebe dann als Unterschied, dass beim ordentlichen Unterrichtsfach Islamische Religion die Lehrerinnen kein Kopftuch tragen dürften?

Auch ein ordentliches Unterrichtsfach Religion wäre Bekenntnisunterricht. Im Bekenntnisunterricht dürfte die Lehrerin auch ein Bekenntnissymbol tragen. Das Kopftuchverbot wurde verhängt, um die Schüler und Schülerinnen zu schützen, die das Bekenntnis nicht teilen. Im islamischen Religionsunterricht wären die islamischen Schüler und Schülerinnen aber gerade unter sich.

Begrüßen Sie es, dass Ethik und Religion für alle Schüler bereits ab Klasse 1 Wahlpflichtfächer werden, falls das Volksbegehren Erfolg hätte?

In den frühen Klassen hat der freiwillige Religionsunterricht größeren Zuspruch als in den späteren – das ist verständlich. Ob das so bleiben wird?

Kann es nicht sein, dass die Kirchen verlieren werden, wenn parallel Ethik angeboten wird? Jetzt besuchen viele Kinder den Religionsunterricht in der Grundschule ja nur deshalb, weil es sonst nichts gibt.

Das kann den Kirchen in der Tat passieren. Insgesamt werden die Kinder stärker auseinanderdividiert werden. Auch das fand ich nicht redlich bei der Kampagne der Kirchen: auf der einen Seite vor einem nicht integrierten, isolierten, vielleicht darum tendenziell gefährlichen Islam warnen und zugleich die Muslime in die Isolation ihres Religionsunterrichts hinein- und aus dem gemeinsamen Ethikunterricht herausdrängen.

Wäre die Integration der Islamlehrer nicht leichter bei einem ordentlichen Unterrichtsfach? Dann wären sie Teil eines Kollegiums.

Das könnten sie auch jetzt schon sein. Noch mal: Der Staat ist frei zu bestimmen, welche Qualifikationen es für die Erteilung von freiwilligem Religionsunterricht braucht. Würde er nur entsprechend qualifizierte Lehrer zulassen, die dann oft auch anderen Unterricht erteilen könnten, wären die Lehrer integrierter. Sie würden auch nicht nur zu ihrem Unterricht in die Schulen kommen.

Ist es nicht eigentlich ein Versäumnis des Senats, dass er trotz Zehntausender muslimischer Schüler keinen Lehrstuhl für islamische Theologie einrichtet?

Das ist ein Versäumnis. Dass andere Bundesländer sich desselben Versäumnisses schuldig machen, kann den Senat in Berlin, wo das Problem besonders drängt, nicht entlasten. Wir brauchen in Berlin eine islamische Fakultät. Sie muss nicht groß sein, allerdings ist das Ein-Lehrstuhl-Konzept nicht ausreichend.

Sie haben früher gesagt, dass Sie sich Religion und Ethik als gleichberechtigte Wahlpflichtfächer durchaus auch für Berlin vorstellen könnten. Andererseits betonen Sie, dass es gerade auf ein gemeinsames Fach ankomme. Wie passt das zusammen?

Ich hatte für den damaligen Senator Klaus Böger zwei Entwürfe für das Schulgesetz entwickelt, das Fenster- und das Forumsmodell. Das Fenstermodell ist, was wir jetzt haben: Im Ethikunterricht können Fenster aufgemacht werden, in denen die Lehrer mit den Schülern und Schülerinnen des freiwilligen Religionsunterrichts ihr Bekenntnis vorstellen. Das Forumsmodell war für das Wahlpflichtmodell gedacht: Die verschiedenen, getrennt unterrichteten Gruppen kommen immer wieder im Forum zum Austausch zusammen. Gemeinsamkeit kann man, wenn man will, auch beim Wahlpflichtmodell herstellen. Ich finde das jetzige Berliner Modell überzeugender, aber auch ein Wahlpflichtmodell könnte Austausch und Gemeinsamkeit herstellen. Leider hat die jetzige Auseinandersetzung die Gräben so vertieft, dass wir weder das Fenster- noch das Forumsmodell so gut bekommen werden, wie es sein könnte. Es ist fatal: Die Gräben werden am Ende tiefer sein als zuvor. Wir haben in Berlin schon immer einen antikirchlichen Affekt, einen tieferen Graben zwischen kirchlichen und nicht kirchlichen Kreisen als in anderen Ländern. Über der Kulturkampfstimmung, die um Volksbegehren und -entscheid entstanden ist, werden die Gräben noch tiefer. Und das alles wegen eines Konflikts um zwei Modelle, die beide akzeptabel sind und bei denen das entscheidende ist, mit welchem Leben sie erfüllt werden!

Ärgert Sie als Jurist die Begriffsschummelei, die jetzt passiert, wenn etwa Pro Reli von Wahlfreiheit hier und Zwang dort spricht?

Mich ärgert, was Pro Reli macht, weniger als Juristen denn als Christen. Mich ärgert, dass meine Kirche politischen Kampf auf diese Art und Weise führt. Ich erwarte von ihr etwas anderes.

Sehen Sie einen qualitativen Unterschied bei dem Kampf, den die evangelische und die katholische Kirche geführt haben?

Ich denke, man tut der katholischen Kirche kein Unrecht, wenn man sagt, dass Bischof Huber ein ganz anderer politischer Kämpfer als Kardinal Sterzinsky ist.

Sie haben gesagt, die Kirchen haben so oder so verloren, also auch wenn sie jetzt beim Volksbegehren Pro Reli gewinnen, weil sie so viel Porzellan zerschlagen haben. Aber ist es nicht so, dass in zwei Jahren der Wahlkampf vergessen sein wird und nur noch zählt, dass die Kirchen ihr Ziel des ordentlichen Unterrichtsfachs erreicht haben?

Porzellan zerschlagen? Was ich meine, ist, dass die Kirchen mit ihrer Kampagne der Entstellungen und Lügen ihre Substanz und ihre Integrität beschädigt haben. Das bleibt. Außerdem werden in zwei Jahren die Gräben noch nicht weniger tief sein – wenn es den Kirchen mit dem, was sie über Toleranz und Offenheit und Austausch und Gemeinsamkeit sagen, ernst ist, sind sie aber darauf angewiesen, dass die Gräben zugeschüttet werden. Auch dass die Kirchen sich der Herausforderung, den Religionsunterricht als freiwilligen attraktiv zu machen, nicht mehr stellen müssen, sondern entziehen können, ist kein wirklicher Sieg. Überdies fällt es mir schwer vorzustellen, dass 25 Prozent der Berliner und Berlinerinnen der Pro-Reli-Kampagne folgen werden. Mit ihrem Vorwurf, das Berliner Modell verstoße gegen das Grundgesetz, mag die Pro-Reli-Kampagne die vielen, denen das Grundgesetz wichtig ist, zunächst beeindruckt haben. Aber ich hoffe, es wird bis zur Abstimmung allgemeines Wissen, dass das gegenwärtige Berliner Modell mit dem Grundgesetz voll und ganz übereinstimmt.

Das Gespräch führten Gerd Nowakowski und Susanne Vieth-Entus.  

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