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Berlin: Die Rückeroberung der Straße

Früher verrammelte er am 1. Mai seine Ladentür, heute macht Hasan Kara gute Geschäfte

Chris de Burghs Schmachtstimme schleppt sich träge übers Pflaster der Mariannenstraße. Die Sonne lächelt den schlendernden Pärchen ins verliebte Gesicht. Nur Hasan Kara schaut streng geschäftsmäßig. Der Kreuzberger, seit mehr als 20 Jahren im Kiez, bereitet sich auf den 1. Mai vor, seinen fünften Maifeiertag als Straßenverkäufer von Grillwürstchen und Beck’s Bier. Davor, also vor Einführung des Myfestes, sahen seine Vorbereitungen anders aus: Schaufenster und Hauseingänge verbarrikadieren, ab 15 Uhr geschlossener Rückzug in die Wohnung, ab 20 Uhr Fenster zuhalten wegen des Tränengases.

Hasan Kara – kurze dunkle Haare, Turnschuhe, Cordhose – hat noch nie einen Stein auf einen Polizisten geworfen. Als er ins rebellische Alter kam, schickte sein Vater ihn in den Fußballverein. „Dort lernten wir Disziplin und Benehmen.“ Wie die meisten Türken in Kreuzberg hat er das Krawall-Ritual am 1. Mai nur kopfschüttelnd vom sicheren Fensterplatz aus verfolgt. Kara ist jetzt 40, hat eine Frau, zwei Kinder und einen Schlüsseldienst. Aus seinem Kiez hat er sich von den Krawallmachern nicht vertreiben lassen.

Mit dem Myfest sei die Atmosphäre viel friedlicher geworden, sagt er. Wenn die Stimmung dennoch umschlagen sollte, dann räumt Kara schnell seine Sachen zusammen und zieht sich ins Private zurück. Je früher das passiert, desto schlechter ist sein Verdienst.

Hasan Kara war immer neutraler Beobachter, auch schon in den 80ern, als noch Häuser besetzt wurden. Er sah Polizisten, die Demonstranten blutig prügelten und danach in die Büsche warfen. Und er erinnert sich an Autonome, die schon am Vorabend in den Hinterhöfen ihren Steinevorrat stapelten und Molotow-Cocktails füllten. Eingemischt hat er sich nicht. „Mit denen war nicht zu spaßen.“

Wenn die Schlacht losging, sah es manchmal aus wie die Fernsehbilder von der Intifada in Palästina. Es fehlte aber der Kommentar. Hasan Kara hat nie verstanden, warum Jugendliche gegen das Großkapital kämpfen und dazu die Fensterscheiben kleiner Gewerbetreibender einwerfen. Viele türkische Geschäftsleute verzichten auf einen Versicherungsschutz, weil ihnen die Policen zu teuer sind.

Ohne Vandalismus findet Kara seinen Kiez „sehr schön“, besser als alle anderen Städte, die er in Europa schon kennen gelernt hat. Die internationalen Restaurants, das Leben auf der Straße, die Vielfalt der Leute. Im Viertel zwischen Görlitzer Park und Mariannenplatz gebe es eine „offene Gesellschaft“, die den 1. Mai als Bühne entdeckt habe, um sich nach außen zu zeigen. Der 1. Mai in der alten Form, also Polizisten versus Randaletouristen, habe dem Charakter Kreuzbergs eigentlich schon immer widersprochen. „Es gibt heute viel Solidarität untereinander“, findet Kara. Und auch die Politik habe dazugelernt. „Man redet mehr miteinander.“

Kreuzberg, gerade das alte SO 36 hinter dem Kottbusser Tor, hat nach Meinung von Hasan Kara eine gute Zukunft. In der Mariannenstraße würden schon die Mieten steigen. Nicht Hartz-IV-Empfänger zögen in die freien Wohnungen, sondern Studenten und Berufsanfänger. Die Mai-Randalen kennen die nur aus dem Fernsehen.

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