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Berlin: Die unaufgeklärten Morde: Was vom Leben übrig blieb, kommt auf den Tisch von Dr. Schneider

Der Tod begegnet Volkmar Schneider im Jahr so ungefähr 1500 Mal. Die Beziehung ist - wie man so sagt - berufsbedingt.

Der Tod begegnet Volkmar Schneider im Jahr so ungefähr 1500 Mal. Die Beziehung ist - wie man so sagt - berufsbedingt. Die beiden kennen sich inzwischen gut, grüßen einander respektvoll. Und doch ergreift Schneider immer noch ein Schaudern, wenn ein Opfer kindliche Züge trägt oder völlig entstellt wurde. "Das ist körperlich und psychisch belastend." Wegen des häufigen Zusammentreffens mit dem Tod hört Schneider seine Lebensuhr inzwischen lauter ticken. Er lebe intensiver, sagt er, temperamentvoller. Deshalb schaut er oft aufs Chronometer und spricht mit erhöhter Geschwindigkeit.

Seit mehr als 34 Jahren ist Volkmar Schneider Rechtsmediziner, inzwischen gesellt sich zum Dr. med. noch ein Dr. h.c. Schneider leitet gleich zwei Institute, hält Vorlesungen, Vorträge, publiziert, tritt vor Gericht als Gutachter auf. Da bleibt eben wenig Zeit für ausschweifende Lebensbeichten. Vielleicht in vier Jahren, wenn die Pensionierung ansteht, wird er genügend Zeit haben, ein Buch über seine spektakulärsten Fälle zu schreiben: den Tod der ersten Frau von Bubi Scholz zum Beispiel, der Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg oder das Gutachten zur Prozessfähigkeit von Erich Honecker.

Also flottissimo ein Rundgang durch die Wissenschaft vom toten Menschen, der nicht einfach so sein Leben aushauchte, sondern gewürgt, vergiftet, erschlagen wurde, Selbstmord beging oder im eigenen Auto zu Tode kam. Im wehenden Weißkittel schreitet Schneider voran durch den Verbindungsgang zum Neubautrakt des Instituts für Rechtsmedizin der FU. Rechts und links hängen, fachmännisch ausgeleuchtet, die Fotografien des Grauens: Ein fein gesticktes Gewebemuster - Schneiders Kommentar: "Schrotschuss". Er wirft nur Worthappen hinter sich, aber in professoraler Distinktion. "Hier Blutungen im Gehirn, nicht wahr. Hier ein Würgemal". Ein Bild zeigt einen blauen Lappen in einem roséfarbenen Organ-Gemenge; vom Chirurg bei der Operation vergessen - ein tödlicher Lapsus. Weiter hinten das Röntgenbild einer 72-Jährigen: In ihrer Schädeldecke klafft ein großer weißer Fleck in der Form eines Zapfhahns. Mit dem war sie erschlagen worden.

Boulevard Berlin: Was die Stadt bewegt...

"Eine visuelle Disziplin", doziert Professor Schneider, nur fehlen die echten Bilder. Der Sektionssaal ist leer, bis zum letzten Bazillus blankgewischt. Wenn obduziert wird, dürfen in Berlin nur angehende Juristen, Mediziner und Kriminalbeamte zuschauen. Das Visuelle beschränkt sich auf drei Stahltische mit eingelassenem Waschbecken an einem Ende und Aufsatz für das Besteck. Im Ernstfall wird ein senkrechter Luftstrom erzeugt, um den Verwesungsgeruch zu dämpfen. Unter den hellen Fliesen verläuft eine Fußbodenheizung. Der Saal wurde erst vor wenigen Jahren gebaut.

Täglich am Seziertisch

Der Chef steht noch täglich selbst am Seziertisch. Die jüngeren Kollegen könnten ja etwas übersehen haben, sagt Schneider. Ein Rechtsmediziner braucht viel Erfahrung. Auch die Neugier treibt ihn. "Jeder Fall ist anders." So beobachtete Schneider, dass bei Strangulierten Blutungen in den Nasennebenhöhlen auftreten können. Bei einigen Pistolen-Selbstmördern führte der Rückschlag zu Verletzungen im Schultergelenk. "Das wurde noch nirgends beschrieben." Solche "Nebenwirkungen" können wichtige Indizien sein, wenn die Todesumstände unklar geblieben sind.

Ein kurzer Blick ins Fotolabor, dann fallen wir in die Toxikologie ein. Alkohol und Heroin sind in diesen Tagen die häufigsten Gifte, erklärt ein überraschter Kollege. Eher selten werden Schlaf- oder Pflanzenschutzmittel in den Organen eines Opfers nachgewiesen. Auf blauem Noppengummibelag geht es weiter durch die Flure. Schneider zählt auf, was er gerne noch hätte: ein Labor für Verkehrsmedizin, mit Dummies für eigene Crashtests, einen Physiognomieexperten, der anhand von Skelettteilen ein Gesicht rekonstruieren kann und einen Biologen für die Analyse der Fäulnisprozesse. Jemanden, der sich mit Madenlarven und ihren Verpuppungsgewohnheiten auskennt und daraus den Todeszeitpunkt bestimmen kann.

Gerade in Berlin, wo oft Wasserleichen gefunden werden oder Menschen, die einsam in ihrer Wohnung starben, bräuchte man einen solchen Fachmann dringend. Aber die Finanzen und der Stellenschlüssel sind dagegen. Als Pathologe habe man keine gute Lobby - Schneider zitiert den Volksmund: "Ihr macht ja nur mit Leichen". Dabei machen seine Leute auch mit Lebenden. Opfer von Überfällen werden begutachtet. Und natürlich auch die Verletzungen von Tätern.

Alle "Kapitalsachen" westlich der ehemaligen Mauerlinie übernehmen Schneiders Institute, die Kollegen von der Charité bearbeiten weiterhin den Ostteil. Bei den Leichenöffnungen hat allerdings der Westen mit 75 Prozent die Nase vorn. Rund 2400 Obduktionen werden jedes Jahr angeordnet - weit mehr als in Städten wie Köln. Dass jeder zweite Mord unentdeckt bleibt, wie es vor Jahren in einer Studie hieß, möchte Schneider für Berlin ausschließen.

Die Lebensuhr tickt weiter. Kurzer Marsch schräg über die Straße ins DNA-Labor. Kollege Hubert Poche klärt dort am laufenden Band Vaterschaften. Gelegentlich erhält er Kartons von der Polizei geschickt, mit Schuhen, Zahnbürsten, blutverschmierten Kleidungsstücken oder Haarbürsten. Poche klärt dann, was zu wem gehört. Von den Kriminalfällen selbst muss er nichts wissen. Die DNA-Analyse ist eine objektive Wissenschaft mit einer Trefferquote von 99,9 Prozent. Schneider räuspert sich mehrfach und hakt zielsicher in die erste Gesprächspause ein. "Ja, gut". Das Signal zum Aufbruch.

Nochmal zurück ins Hauptgebäude. Schneiders Büro gilt bei Filmteams als ideale Umsetzung der Regieanweisung: klassisches Arbeitszimmer eines deutschen Professors. Schwerer Holzschreibtisch, Bücherwände, ein kolossales Mikroskop, Urkunden und ein Rembrandt-Gemälde. Schneider mit seinem prächtigen Haupthaar in Weiß, dazu ein gepflegter Kinn- und Oberlippenbart, ist selbst ein würdiger Repräsentant seiner Zunft. Der Rembrandt übrigens ist leider nur die Kopie der "Anatomie des Dr. Nikolaas Tulp". Tulp schneidet gerade den Arm des gehenkten Straftäters Adriaan Adriaanszoon auf. Nur die Herren Chirurgen dürfen zuschauen. Und was ist mit Rembrandt?

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