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Berlin: „Drücke Taste 1 für nächste Waffe“

Neun Prozent der Kinder, die viel am Computer spielen, sind suchtgefährdet, sagen Experten der Charité. Gerade haben sie die ersten Ratgeber veröffentlicht – Hintergründe einer Abhängigkeit

Alex ist der Held. Eine ganze Armee hört auf ihn. Er denkt sich Kampfstrategien aus, und seine Männer ziehen los. 17 Stunden am Tag hat Alex Macht. Die anderen sieben ist er ein junger Mann in einer westdeutschen Kleinstadt, der keine Ausbildungsstelle gefunden hat und den ganzen Tag vor dem Computer hockt.

Früher, als er noch zur Schule ging, hoffte er von Stunde zu Stunde, dass es bald vorbei sei und er wieder nach Hause könne. Er dachte an seinen PC und war im Unterricht extrem unruhig. Psychologen nennen das„psychomotorische Agitiertheit“. Sie ist ein Anzeichen für Sucht.

Alex ist krank, oder: Alex war krank. Er war computerspielsüchtig. Eine Abhängigkeit, die keine Substanz braucht, sondern nur ein Gerät. Computer gehören heute zum Alltag von Kindern. Schon Elfjährige spielen etwa eine Stunde am Tag, Jungen mehr als Mädchen. Neun Prozent von ihnen sind suchtgefährdet – das ist das Ergebnis einer Charité-Studie an Sechstklässlern. Dabei wurde das Suchtpotenzial an sechs Kriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO gemessen – ein exzessiver Computerspieler erfüllt mindestens drei: unstillbares Verlangen, die Dosis wird größer, Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Interessen, Kontrollverlust, exzessives Spielen trotz schädlicher Folgen. Forscher gehen davon aus, dass um die 400 000 Computersüchtige in Deutschland leben.

Heute hat Alex seine Sucht unter Kontrolle. Er hat sich Hilfe bei einer Beratungsstelle gesucht. Die gibt es in Deutschland nur vereinzelt, eine davon als Telefonhotline in Berlin. Alex Geschichte beschreiben die Berliner Psychotherapeuten Sabine Grüsser-Sinopoli und Ralf Thalemann in ihrem Ratgeber, der diesen Monat erscheint („Computerspielsüchtig? Rat und Hilfe“, Hans Huber 2006, 19,95 Euro). Erstmals werden darin konkrete Ratschläge und Tests veröffentlicht.

Thalemann behandelt spielsüchtige Kinder und Jugendliche in Berlin, und er sagt: „Es ist unglaublich, von wie vielen Kollegen sie zuvor weggeschickt wurden.“ Bevor er sich der praktischen Therapie von Computerspielsüchtigen zuwandte, forschte er mit der Interdisziplinären Suchtforschungsgruppe der Charité an dem Phänomen dieser Sucht. Erst sehr wenige Mediziner sind darauf spezialisiert, aber das ändert sich gerade.

Besonders für Jugendliche, denen es nicht leicht fällt, über sich und ihre Probleme zu reden, seien Computerspiele begehrte Tröster, sagt Thalemanns Kollegin Sabine Grüsser-Sinopoli. Denn: „Sie sind perfekt zur Gefühlsregulation.“

Im Computerspiel kann ein schüchterner Junge durchsetzungsstark sein, etwa als Befehlsgeber von einem ganzen Heer. Und wenn er im Spiel ein Ziel erreicht, etwa eine zweite Spielebene erlangt oder einen Kampf gewinnt, dann registriert das Gehirn eine Belohnung. Es schüttet den Botenstoff Dopamin im Vorderhirn aus. Und das führt, wie beim Konsum von Drogen, zu einem Glücksgefühl. Das Gehirn wiederum besitzt ein Suchtgedächtnis. „Es lernt: Das tut mir gut“, sagt Grüsser-Sinopoli. Aber es registriert vor allem die Sofortwirkung, den ersten Impuls. Schädliche Folgen, wie Rückenschmerzen durch langes Spielen, Hunger durch das Vergessen von Essen oder Einsamkeit, weil Freundschaften einschlafen, merkt das Suchtgedächtnis nicht.

Praktisch bedeutet das: Wenn der Junge in der Schule Ärger hat, und er traurig ist, setzt er sich zu Hause direkt an den Bildschirm. Andere Möglichkeiten, einen Freund anrufen oder sich zum Fußball verabreden, wählt er immer seltener, bis er sie gar nicht mehr in Betracht zieht. Irgendwann gibt es keine Freunde mehr, kein Hobby, manche gehen nicht mehr zur Schule oder sind unterernährt, und am Ende leben Computersüchtige dann in zwei Welten: in der realen Schul- und Familienwelt und in ihrer fiktiven Computerspielwelt. „Es sind fast nie die Betroffenen, die den Leidensdruck spüren“, sagt Sabine Grüsser-Sinopoli. Zu mehr als 90 Prozent seien es Eltern, die sich bei der Hotline melden, pro Monat um die 60.

Dass andere Strategien zum Wiedergutfühlen kaum noch benutzt werden, liegt daran, dass im Gehirn dieser eine Handlungsweg „Computerspielen“ stark ausgeprägt wurde. „Das Gehirn wird so, wie man es benutzt“, erklärt der Neurobiologe Gerald Hüther, der ebenfalls gerade ein Buch zur Sucht veröffentlicht hat („Computersüchtig – Kinder im Sog der modernen Medien“, Patmos 2006, 18 Euro). Die Veränderungen im Gehirn seien vergleichbar mit filigranen Verbindungswegen, die, je häufiger man sie nutzt, immer dicker werden, bis sie „am Ende gar Autobahnen gleichen“, von denen man nur schwer runterkomme.

Oft trauen sich exzessive Spieler im realen Leben wenig zu. Sie flüchten in Traumwelten, und manchmal verwischen die Grenzen: Alex beschreibt die Faszination, die er damals spürte, damit, dass er durch schnelle Bilder und schnelles Reagieren in eine „Art Trance“ geriet. Die auch noch nach Abschalten des Computers eine Zeitlang anhielt. Manchmal hatte er draußen auf der Straße, im realen Leben, das Gefühl, hinter der nächsten Häuserecke lauere jemand auf ihn: „Die Situation fühlte sich teilweise nach ‚drücke Taste 1 für die nächste Waffe’ an“, erzählt er in dem Buch „Computersüchtig“.

Die Psychologen der Charité warnen aber davor, PC-Süchtige, die Ballerspiele mögen, mit Amokläufern in Verbindung zu bringen. „Es ist nicht vertretbar, Kinder in diese psychopathische Schiene zu schieben“, sagt Sabine Grüsser-Sinopoli. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen erklärte kürzlich, dass jeder Dritte von 17 000 befragten Jugendlichen im Alter von 14 bis 15 Jahren Computerspiele spielt, die nur für Erwachsene zugelassen sind.

Dennoch: Die Gefahr durch Computerspielen wird von Eltern oft überschätzt. So fanden die Charité-Forscher heraus, dass nur 30 von 50 Jugendlichen, die auf Wunsch ihrer Eltern eine stationäre Therapie machten, wirklich computerspielsüchtig waren.

Die Interdisziplinäre Suchtforschungsgruppe der Charité (Tucholskystraße 2) hat die Telefonnummer: 450 52 95 21; die Hotline für Verhaltenssüchtige (Glücksspieler, Computersüchtige u. a.) ist von Montag bis Freitag von 12 bis 17 Uhr erreichbar unter der Telefonnummer 450 52 95 29; die Fachstelle für Suchtprävention des Landes Berlin (Mainzer Str. 23) hat die Telefonnummer 29 35 26 15

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