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Berlin: Ein Mensch ist mehr als Tochter oder Sohn

Hilde Schramm erhält den Mendelssohn-Preis. Um den Verleihungs-Ort gab es Streit. Wegen ihres Vaters Albert Speer

Sie schminkt sich nicht, trägt T-Shirt mit Weste und fast keinen Schmuck. „Eine Frage des Stils“, sagt sie. Und eine Infragestellung ästhetischer Konventionen. Hilde Schramm hat die Gefahrenzonen der bürgerlichen Werteordnung schon früh für sich markiert, in den Fünfzigerjahren. Sie hat sich entzogen. Danach begannen die Analyse, die Aufklärung und das vorsichtige Aufbegehren. Hilde Schramm kämpfte für den Frieden, für Minderheiten, für Chancengleichheit, für die Opfer von Naziterror, Krieg, Folter und Zwangsarbeit. Dafür bekommt sie am Montag den Moses-Mendelssohn-Preis.

Sie fühlt sich geehrt, sagt sie, obwohl ihr Ehrungen nicht wirklich liegen. Alles Pompöse, Fassadenhafte und womöglich Pathetische ist ihr ein Graus. „Ich bin ein scheuer Mensch, der sich immer wieder überwinden muss“ – auch nach 68 Jahren. Das Überwinden macht Hilde Schramm gleichzeitig Spaß, weil sie mit diesen öffentlichen Auftritten viele Menschen erreichen kann. Auch Interviews gibt sie eigentlich nur ungern, und fast alle beginnen mit einer ganz klaren Verabredung: Keine Fragen zu ihrem Vater, zu Albert Speer, Hitlers Architekt und Rüstungsminister.

Dieses Tabu dient vor allem zum Selbstschutz. Ein Mensch ist mehr als nur Sohn oder Tochter. Und doch steht der Vater immer schon im Raum, bevor Hilde Schramm ihn betritt. Jedes ihrer Worte wird an ihm gemessen. Vieles, was sie tut, wurzelt im Wissen um seine Untaten. Aber ihr Handeln sei keine persönliche Wiedergutmachung, sagt sie sehr bestimmt. Dieses Wort verletzt ihr moralisches Empfinden. Es klingt nach Geld, nach Aufrechnen und Schlussstrichziehen.

Auch die Preisverleihung für ihr Lebenswerk bleibt nicht ohne Rückkopplung in die Vergangenheit. Albert Meyer, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, protestierte gegen die Entscheidung der Jury, den Preis in der Synagoge Rykestraße zu übergeben, als Auftakt zu den Jüdischen Kulturtagen. Die Verdienste von Hilde Schramm seien unbestritten, aber es gebe eben auch Gefühle von Holocaust-Opfern, die zu respektieren seien. Jetzt wird der Preis im Französischen Dom am Gendarmenmarkt verliehen. Hilde Schramm erkennt an, dass in diesem Fall Gefühle vor der Vernunft kommen. Sie wirkt sogar ein wenig erleichtert. „In einer Synagoge ist mein Vater viel präsenter als an einem anderen Ort. Das möchte ich nicht. Es geht ja um meine Arbeit.“

Ihre Sätze bettet Hilde Schramm in ein weiches Lächeln. Die hellblauen Augen liegen auf kleinen Polstern, unfähig, böse zu blitzen. Ihre Kindheit während des Krieges verbrachte sie in einem „Schonraum“ in Berchtesgaden. Sie entbehrte nichts, außer vielleicht den Vater – „der war ja nie da.“ Eine gute Erziehung habe sie genossen, später konnte sie mit dem Geld der Großeltern studieren, bekam sogar ein Stipendium für einen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten. „Ich war sehr privilegiert.“ Mit der Ausbildung in Erziehungswissenschaften und Soziologie, mehreren Abschlüssen plus Promotion stand ihr eigentlich alles offen. „Man war erwünscht.“

Im Bewusstsein dieser Bevorzugung und in der Auseinandersetzung mit dem Versagen der Eliten im Dritten Reich richtete sie ihre Welt nach neuen Maßstäben ein. Das Streben nach Reichtum und übergroßer Ehrgeiz wurden daraus verbannt. Mit Albert Speer, der eine 20-jährige Haft in Spandau absaß, korrespondierte sie, um das Paradoxon des liebevollen Vaters, der gleichzeitig Unmensch war, zu lösen. Es gelang ihr nicht.

1968 zog Hilde Schramm mit einigen befreundeten Familien in ein großes Haus in Lichterfelde. Das herrschende Konzept der Kleinfamilie sollte überwunden werden und auch die strenge Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Die Hauskommune funktioniert bis heute, wobei Frau Schramm das Wort Kommune für ungeeignet hält. „Wir haben viele Küchen und Bäder.“ Es gab keinen Zwang, die Türen ständig offen zu halten. Dem Vater übrigens soll der unkonventionelle Lebensstil gefallen haben, der Mutter weniger.

Hilde Schramm wahrt Distanz zur Studentenbewegung, die sie für demagogisch hält, macht in den 80er Jahren aber in der Friedensbewegung mit. Parallel dazu kommt sie zweimal für die Alternative Liste ins Abgeordnetenhaus. Während der rot-grünen Koalition wird sie sogar Vizepräsidentin, aber da leuchten schon alle inneren Warnsysteme gegen Machtstreben und Karriereplanung. Hilde Schramm ignoriert die Geschäftsordnung des Parlaments, löst einen Eklat aus und ist das Amt schnell wieder los.

In den 90er Jahren kümmert sie sich in Brandenburg um Projekte gegen die rechte Jugendkultur. Dieses Thema bewegt sie, wie auch das Schicksal der Zwangsarbeiter. Weil aus dem großen Topf der Bundesstiftung nur diejenigen etwas bekommen, die Papiere vorweisen können, engagiert sie sich in einem privaten Verein, der Spenden sammelt.

Zur Preisverleihung wird Hilde Schramm über eine jüdische Frau sprechen, die ihre Denkweise sehr geprägt hat: Dora Lux, ihre Geschichtslehrerin. Frau Lux hatte Kinder, war zugleich berufstätig und kümmerte sich um bessere Bildungschancen für Frauen. Hilde Schramm will bald ein Buch über sie schreiben. Dann wird ihr Vater wieder in den Hintergrund treten. Keine Interviews mehr, keine öffentlichen Auftritte, nur Hilde Schramm sein, unprätentiös, nachdenklich und scheu. „Ich liebe das Understatement.“

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