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Offen sein. Livia Brandão kam aus Brasilien, in Berlin spezialisierte sie sich nach dem Psychologiestudium in „Interkultureller Erziehung“. Sie hat viele Ideen.

© privat

Eine brasilianische Psychologin in Berlin: Die Brückenbauerin zwischen Deutschen und Geflüchteten

Livia Brandão kam aus Brasilien nach Berlin, arbeitete in einem Flüchtlingsheim. Wie kann das Miteinander gelingen? Aus der Reihe „Fünf Jahre Wir schaffen das“.

Lebensretter sind gerade sehr gefragt. Amnesty International fährt eine Kampagne mit der Forderung, dass humanitäre Hilfeleistung für Geflüchtete eindeutig anerkannt und geschützt wird. Den Appell „Leben retten“ haben mehr als 400 Lebensretterinnen und Lebensretter sowie zahlreiche Verbände unterzeichnet.

Auch die Psychologin Livia Brandão zählt dazu. Vor elf Jahren hatte die heute 36-Jährige beschlossen, ihre Heimat Brasilien zu verlassen und nach Deutschland zu kommen. An der Freien Universität Berlin machte sie zusätzlich zu ihrem Psychologiestudium noch einen Abschluss in „Interkultureller Erziehung“, arbeitete dann als Erzieherin in einer Kita, vorwiegend mit Migrantenkindern.

Vor zwei Jahren bot man ihr eine Stelle als stellvertretende Leiterin einer Gemeinschaftsunterkunft in Wohncontainern für Geflüchtete an. Hier waren ihre Kenntnisse als Psychologin gefragt besonders bei Menschen, die aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen Psychosen entwickelten. Da sie selber als Fremde gekommen ist, hatte sie zudem ein feines Gespür für die besonderen Nöte von Flüchtlingen.

Livia Brandão erinnert sich besonders gut an einen Syrer, der sicher war, dass seine Eltern und sein Bruder ihn töten wollten, entweder durch Gift oder durch Gas. Mit Medikamenten oder Therapie könne man solche Psychosen heilen, sagt Brandão. Leider war der Mann aber kein Einzelfall.

Panikattacken und Weinkrämpfe sah sie immer wieder unter den Bewohnern der Unterkunft. Eine Familie aus Afghanistan erhielt die Nachricht vom Tod eines Jungen, der in der Heimat geblieben war: „Dessen Tante bekam darauf einen epileptischen Anfall.“

Gesuchte Arbeitskräfte

Inzwischen arbeitet Livia Brandão in einer eigenen Praxis, in Kreuzberg. Immer noch sind die meisten ihrer Patienten Migranten. Jetzt behandelt sie jedoch vor allem Menschen, die als gesuchte Arbeitskräfte freiwillig nach Deutschland gekommen sind. „Auch die haben es manchmal schwer, Anschluss zu finden, spüren Stress und fühlen sich allein.“

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Aber sie sieht doch himmelweite Unterschiede zu den Geflüchteten. Wenn sie von ihrer Arbeit in der Unterkunft erzählt, wird rasch klar, wie die Umstände dort ihr zu schaffen gemacht haben, weshalb sie sich engagiert für bessere Lebensverhältnisse. Die Hürden für Geflüchtete seien einfach viel höher als für Arbeitsmigranten, sich in Deutschland wohl- und willkommen zu fühlen: „Die Unterschiede im Stressniveau kann man gar nicht vergleichen“ – die ständige Angst, womöglich abgeschoben zu werden, die bürokratischen Hürden vor dem Asyl, die Sorge wegen eines Visums.

Kein Nagel in der Wand

Auch die vielen Regeln in den Gemeinschaftsunterkünften gäben den Asylsuchenden das Gefühl: Du bist hier nicht erwünscht. „Aus hygienischen Gründen und wegen Brandschutzmaßnahmen darf man nur einen kleinen Teppich besitzen, nur bestimmte Möbelanordnungen haben, darf keinen Nagel in die Wand schlagen, um ein Bild aufzuhängen. Ständig wird kontrolliert, wie viele Besucher kommen, wann und wie oft.“

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Für Livia Brandão ist es kein Wunder, „dass die Leute das Gefühl haben, hier nicht richtig zu sein und alles falsch zu machen“. Als stellvertretende Leiterin der Unterkunft musste sie diese Regeln verteidigen, aber es berührte sie doch, als ein Mann ihr sagte: „Ich lebe hier wie im Gefängnis.“ Wie viel Leid die Regeln bringen, das hat sie auch daran gemerkt, wie gestresst manche sind.

Die Frauen kochen

Vor allem die Männer würden leiden, die aus sehr traditionellen Gesellschaften kommen. „Die Frauen kümmern sich weiter um die Familie, kochen, kaufen ein, bringen die Kinder zur Kita.“ Die Männer hingegen litten unter dem Bedeutungsverlust, da sie keine Arbeit haben und auch teils nicht arbeiten dürfen. Das ist aus ihrer Sicht ein großes Manko im System. Das Gefühl, dass alle unter Generalverdacht gestellt werden, hat ihr ebenfalls zu schaffen gemacht. Dass nicht alle, die als Asylbewerber kommen, guten Willens sind und bereit, sich zu integrieren, ist auch ihr klar.

Arbeitsmöglichkeiten könnten aus ihrer Sicht aber helfen, die richtigen Unterschiede zu erkennen. „Wenn die Männer arbeiten dürften, dann könnten die Arbeitskollegen mithelfen, dass sie sich integrieren, könnten erkennen, wenn jemand auf die schiefe Bahn gerät, böse Gedanken hat.“ Aus ihrer Sicht ist es schade, dass die Gesellschaft diese Möglichkeit verstreichen lässt. Kontrollen, die auch notwendig sind, um schwarze Schafe zu erkennen, seien kompliziert.

Alle Konflikte thematisieren

Am besten wäre es aus Sicht der Psychologin, „alle Konflikte zu thematisieren, über alles zu sprechen“. Auch unter Nachbarn sollte man achtsam miteinander umgehen. Warum trägt die Nachbarin ein Kopftuch? Aus religiösen Gründen? Freiwillig? Oder doch weil sie erpresst oder dazu gezwungen wird? Allein das Reden fördere die Achtsamkeit.

„Wir werden nur dann in der Lage sein, Menschen mit guten oder schlechten Absichten zu unterscheiden, wenn wir die Isolation von Flüchtlingen überwinden, sie willkommen heißen und eine neugierige und respektvolle Haltung gegenüber ihrer Kultur, Sprache und Religion einnehmen“, ist Livia Brandão überzeugt: Wir sollten versuchen, ihre moralischen Konzepte zu verstehen, indem wir interessierte und verantwortungsvolle Dialoge führen, die auf ein gemeinsames soziales Wohl abzielen, frei von Gewalt und Intoleranz. Am besten sei es, die Menschen zu akzeptieren, so, wie sie sind.

Richtige Unterscheidungen

Wenn man einander aufrichtig frage, wie es geht, sei es leicht, die richtigen Unterscheidungen zu machen. Männer, die sich wertlos fühlten, weil sie nicht arbeiten dürfen, verfielen zu leicht dem Alkohol, würden sowieso ständig von Dealern angesprochen. Ihr ist schon klar, dass ein böser Mensch unter vielen Migranten für alle sehr viel Schaden verursachen kann. Das seien aber Ausnahmen.

Livia Brandão ist inzwischen Deutsche, bezahlt Steuern und freut sich darauf, zum ersten Mal wählen zu gehen. Manches kommt ihr immer noch seltsam vor an ihrer Wahlheimat. „Hier wird viel mehr kontrolliert als anderswo.“ Meldestellen etwa gebe es in Brasilien nicht. Wenn ein Migrant mit seinem unterernährten Kind zum Arzt gehe, könne es passieren, dass dieser droht, das Jugendamt zu benachrichtigen. Dabei habe er doch gerade die Hilfe des Arztes gesucht. Dieses Phänomen ungerechter Kontrollen oder Unterstellungen, ist sie sicher, treffe Migranten viel öfter als Deutsche.

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