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Berlin: Erstochen – es hätte jeden treffen können

Ein Reflex, ein Kurzschluss: Wie der Angeklagte vor Gericht die Bluttat auf dem Friedhof erklärte

Die Polizei tappte anderthalb Jahre im Dunkeln. Und die Ermittler hatten die Hoffnung fast aufgegeben, den Mord auf dem Friedhof Lilienthalstraße noch lösen zu können. Doch dann spazierte eines Tages ein blonder Mann ins Revier, 21 Jahre alt, breite Schultern, über 1,80 Meter groß. „Ich habe viel nachgedacht, wollte klar Schiff machen“, sagte Michael K. Und als der Prozess vorm Landgericht eröffnet wird, verspricht auch seine Verteidigerin: „Herr K. will sich in jeder Hinsicht dem Verfahren stellen.“

Es ist der 21. Juli 2002. Der damalige Wehrdienstleistende Michael K. trifft sich gegen elf Uhr mit einigen Kumpels zum Gelage. Etwa zur gleichen Zeit verlässt die 48-jährige Dagmar P. ihre Wilmersdorfer Wohnung. Die Bezirksamts- Mitarbeiterin will auf dem Friedhof fotografieren. Das Denkmal für die Trümmerfrauen, die Gräberwiesen für die unbekannten Toten des Zweiten Weltkrieges. Das hat sich die kunstinteressierte Frau schon länger vorgenommen. Also setzt sie sich auf ihr Moto-Guzzi-Motorrad. Wie so oft ist sie allein mit der ausgedienten italienischen Polizeimaschine unterwegs. Vor dem Tor wartet Dagmar P. noch einen Regenschauer ab, geht dann mit ihrer Kamera auf den Friedhof. 15-mal drückt sie auf den Auslöser, dann trifft sie ihren Mörder. Er kennt sie nicht. Aber er braucht Geld. Es hätte jeden anderen Besucher auf dem Friedhof treffen können.

„Ich kam von hinten“, sagt der Angeklagte im Gerichtssaal. „An ihr Gesicht kann ich mich nicht erinnern.“ Nach seiner Version war er nicht allein auf dem Friedhof, „sechs oder sieben Leute“ hätten ihn begleitet. Die Namen der anderen kennt Michael K. angeblich nicht. Oder nicht mehr. „Wir haben 54-prozentigen Rum getrunken, Joints geraucht, gequatscht.“ Damals habe er an den Wochenende immer viel Alkohol getrunken. „Ich war beim Bund, kam freitags und fuhr sonntags wieder in die Kaserne.“ Von der Hasenheide aus kletterten sie in ihrem Rausch angeblich über die Friedhofsmauer, wo ein Kumpan beschloss, „dass wir jemanden abziehen könnten“. Plötzlich habe er das Messer in der Hand gehalten und dem Opfer gegenübergestanden. „Ich wollte der Frau eigentlich nur das Messer zeigen, dann habe ich in einer Kurzschlusshandlung zugestochen“, erklärte Michael K.

Dagmar P. war eine kontaktfreudige Frau ohne Angst, sie soll noch gerufen haben: „Spinnst du?“ Aber Michael K. holte noch einmal aus. „Das war ein Reflex, ein automatisches Ding“, sagt der Angeklagte und hat gleich eine Erklärung parat: „Weil ich durch Drogen und Alkohol beeinflusst war.“

Aber weshalb musste gerade Dagmar P. sterben? Lag es an ihrem schicken Fotoapparat? „Sie hatte eine Handtasche“, antwortet Michael K. Eben nicht, kontert die Vorsitzende Richterin und fragt immer wieder: „Warum haben Sie zugestochen?“ Aber Michael K. weiß es nicht. „Gedanken an die Frau habe ich aus dem Kopf verbannt“, sagt er. Doch die Bilder konnte er nicht verdrängen. Als Michael K. Ende 2002 auch seine Wohnung verlor, ging er zur Polizei. In einem vorläufigen Gutachten spricht der Experte von „Reifeverzögerungen“. Es könnte also sein, dass K. deshalb nach Jugendstrafrecht verurteilt wird. Die Höchststrafe liegt dann bei zehn Jahren Haft.

Kerstin Gehrke

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