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Der Schriftsteller Wladimir Kaminer.

© Jörg Carstensen/dpa

„Erzähl mal weiter“: Die Checkpoint-Fortsetzungsgeschichte mit Wladimir Kaminer

Woche für Woche starten Berliner AutorInnen in unserem Tagesspiegel-Newsletter eine Geschichte. Wie es weiter geht, entscheiden Sie. Lesen Sie jetzt Teil V.

Weil der Sommer immer auch Lese- und Entspannungszeit ist, starten wir im Checkpoint die Rubrik „Erzähl mal weiter“. Gemeinsam mit Berliner AutorInnen und Ihnen wollen wir jede Woche eine Fortsetzungsgeschichte verfassen. Den Auftakt macht Wladimir Kaminer mit „Das verlorene Haus“.

Intro (Wladimir Kaminer): Nicht alle Geschäfte auf unserer Straße haben die dreimonatige Corona-Pause überlebt. Die Frisöre, die Waschmaschinenreparatur, der komische kleine Laden „Ersatzteile für Wasserpfeifen“ und ein von Indern betriebenes mexikanisches Restaurant haben es geschafft, sie sind mit den ersten Lockerungen aus dem Corona-Schlaf erwacht. Die Spätverkaufsstellen, die eigentliche Infrastruktur der Stadt, waren gar nicht zu. Die Spätis sind sowieso das Geschäft der Zukunft, sie ersetzen bereits jetzt Kneipen, Post, Lebensmittelläden und Familienbetreuung mit psychologischer Beratung.

Ich glaube, dass die Spätiverkäufer in ihren Läden leben, ich sehe sie Tag und Nacht bei der Arbeit. Entweder stehen sie hinter der Verkaufstheke oder sie sitzen vor ihrem Laden auf der Bank. Aber das größte Gebäude in unserer Straße, das Filmtheater „Colosseum“, ist in die Insolvenz gegangen. Das Haus gehörte natürlich zur Risikogruppe, schon über 100 Jahre alt und mit Vorerkrankungen, es wurde bereits im XIX. Jahrhundert...

Teil II (Thomas Kletschke) ...zu einem Treffpunkt der „Irgendwas-mit-Medien“-Bohème dieser Stadt. Die hing schon damals ganz entspannt vor den Türen des „Colosseums“ herum, ein Opium-Pfeifchen in der einen und ein Schultheiss in der anderen Hand – Spätis gab es damals ja noch nicht. Man tauschte Neuigkeiten aus, und vielleicht auch Ersatzteile für kaputte Wasserpfeifen. Die Vorstellungen in dem Prachtbau waren damals schon mehr Beiwerk. Jetzt, wo das Colosseum nicht mehr ist, werden sie in die Redaktionsstuben strömen, die Ärmel hochgekrempelt. Erst mal einen Nachruf schreiben...

Teil III (Lu D. Milla) ...Aber nicht auf den historischen Bau, und auch nicht auf das verblichene Illusionstheater. Sondern auf die Zeit, die unwiederbringlich dahin gegangen, zuletzt gerast war. Das christliche Trauerspiel, das jüdische Intermezzo, das aufkommende Morgenland. Das, das, das… „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“, zerschnitt ein Wutausbruch des Chefredakteurs die Stille. „Ab heute geringerer Mehrwertsteuersatz – und wir heben so einen [zensiert] ins Blatt?“ Also alles wie immer, dachte sich K.: Konsum vor – noch ein Tor! Er ließ den Stift sinken und wählte die Nummer des alten Försters…

Teil IV (Ilse Köhl) ...den er vor einigen Tagen zufällig bei einem Absackerbier getroffen hatte. Freizeichen, der Ruf ging durch, aber keine Reaktion am anderen Ende. Vielleicht war er mit seinem kleinen stinkenden Dackel „Hamlet“ unterwegs. Hamlet war schon älter, stank aus allen Öffnungen und musste wegen der altersbedingten Blasenschwäche mehrmals am Tag Gassi geführt werden. Erster, zweiter, dritter langer Ton und voilà: „Hallo,“ meldete sich die tiefe Försterstimme am anderen Ende. Kleines Räuspern, dann die Antwort: „Hallo, ich hoffe, ich störe nicht. Erinnern Sie sich, wir haben uns letzte Woche an der Ecke bei Wolfi getroffen?“ Kurze Stille, „ahja, Sie Stressgeplagter, stimmt‘s?“ „Ja richtig, ich habe lange über das, was Sie mir erzählt haben, nachgedacht, ich werde es tun!“ So, nun war es raus, es war gesagt...

Teil V (Wladimir Kaminer) ...„Sie meinen, Sie werden mit mir ins Kino gehen?“ „Ja, das tue ich. Die Filmhäuser schließen ja nacheinander, vielleicht wird es bald keine Kinos mehr geben.“ „Was wollen wir uns denn anschauen?“ fragte der Förster. „Ich habe keine Ahnung“, sagte K. „Ich habe eine tolle Idee, wir gehen ins Freiluftkino, dort zeigen sie jeden Montag einen Überraschungsfilm!“ Sie gingen hin. K. hoffte, es werde keine deutsche Komödie sein, er mochte die deutschen Komödien nicht. Es war „The Doors“ mit Val Kilmer in der Hauptrolle. „Den habe ich vor 30 Jahren schon gesehen“, sagte der Förster. „Im Colosseum 1991.“

Damals hatte er gerade die Försterlehre begonnen, einen anstrengenden Job und musste täglich sehr früh aus dem Haus. Jeden Morgen um 6 Uhr 30 stand er schlecht gelaunt und unausgeschlafen auf dem Bahnhof der U-Bahn-Station Schönhauser Allee, direkt gegenüber an der Hausfassade des Colosseums hing ein übergroßes Plakat mit Morrisons Kopf, der ihm mit seinem abwertenden schmaläugigen Blick Löcher in die Jacke bohrte. Als wollte er sagen, was machst Du bloß, Junge, alles falsch, dein Studium wird nichts bringen, deine Arbeit ist pure Ausbeutung, schmeiße alles hin, lebe schnell, hab Spaß, Sex, Drugs und Rock-n-Roll und sterbe früh. Er wollte aber ein anderes, ein neues, ordentliches Leben haben. „Leck mich am Arsch Jim, leck mich am Arsch“, dachte er und stieg in die U-Bahn.

So, das war das Ende von „Das verlorene Haus“, der Fortsetzungsgeschichte von Wladimir Kaminer und Checkpoint-LeserInnen. Kaminers neues Buch „Rotkäppchen raucht auf dem Balkon“ erscheint am 10. August. Bis dahin können Sie noch in seinen „Liebeserklärungen“ schmökern.

Im Checkpoint geht es kommende Woche mit der nächsten Geschichte weiter – dann mit der Schriftstellerin Annett Gröschner. Hier für den Newsletter anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.

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