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Berlin: Es begann mit einer Ohrfeige

Ein Band über Berliner und Brandenburger Kindheiten in fünf Jahrhunderten.

Journalistische Arbeitszeiten sind dem Familienleben nicht immer zuträglich, zumal für Redakteure in leitenden Positionen: „Wenn ich aus der Schule kam, ging mein Vater in die Redaktion. Und wenn er zurückkam, ging ich ins Bett.“ So war zunächst die Mutter die zentrale Bezugsperson für Ulrich Matthes, Sohn des langjährigen Tagesspiegel-Lokalchefs Günter Matthes. Später wurde das besser: „Nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, wurden viele Versäumnisse der ersten zwanzig Jahre nachgeholt.“

Heute ist Matthes erfolgreicher Schauspieler, Ensemblemitglied am Deutschen Theater – und Thema eines der „25 Porträts aus fünf Jahrhunderten“, deren Jugend in dem Band „Kindheitsspuren zwischen Havel und Oder“ nachgeforscht wurde. Die im Falle von Matthes nachhaltige Wirkung entfaltete: „Mein ganzes Leben ist auf meiner Kindheit aufgebaut. Meine Kindheit hat mich geprägt – deutlich geprägt.“ Schon früh deutete sich eine schauspielerische Karriere an: „Nicht ich habe das entdeckt, sondern meine Eltern.“ Leute nachmachen, das konnte er besonders gut, und eine der ersten Rollen spielte er in der Grundschule: ein Küchenjunge, der eine Ohrfeige bekam. Doch es gab auch harte Kritik, so als er einen Behinderten nachäffte und die Mutter ihn zur Räson rief: „Stell dir mal vor, was in dem Mann vorgeht! Was soll er denn jetzt denken? Und was würdest du von dir selber denken, wenn du der Behinderte wärst?“ Die Szene hat er nie vergessen.

„Ein Schauspieler ist ein Mensch, der seine Kindheit in die Tasche gesteckt hat und sich auf- und davonmacht“, zitiert Matthes Max Reinhardt. Einer also, der das Glück der Kindheit wirklich erleben durfte, was nicht allen der im Buch vorgestellten Berliner und Brandenburger vergönnt war. Gleich der erste der Porträtierten, Kaspar von Uchtenhagen, im späten 16. Jahrhundert letzter seines Geschlechts, wurde nur neun Jahre alt, angeblich aus Habgier mittels einer präparierten Birne vergiftet, wie in Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nachzulesen. Und die Kindheit von einer wie Synchronsprecherin Reha Hinzelmann, wenngleich sie als Jüdin mit der Mutter den NS-Terror in wechselnden Verstecken überlebte, war alles andere als unbeschwert. Berühmte und Unbekannte wurden in den Band aufgenommen, Königin Luise, Kleist, Cornelia Froboess oder Vicco von Bülow wie auch Johann Ludwig Hohenstein (1731 –1736), dem in seinem kurzen Leben wundersame Heilungskräfte nachgesagt wurden, oder die Kirchenmusikerin und Seelsorgerin Ulrike Esselbach, die ihre DDR-Jugendjahre als Tochter des Brandenburger Superintendenten beschreibt. Eine kunterbunte, doch schön lebensvolle Mischung, in der die Kindheits- zu Epochenspuren werden und die Porträts zu Facetten eines Spiegels der Historie. Kurz: Landesgeschichte aus der Kinderzimmerperspektive. Andreas Conrad

Kindheitsspuren zwischen Havel und Oder. 25 Porträts aus fünf Jahrhunderten. (Hrsg. von Antje Leschonski). Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin. 131 Seiten, 25 Abbildungen, 14,95 Euro

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