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Lukas und Felix Beckstett in Indonesien

© Privat

Felix und Lukas Beckstett (Geb. 1992 und 1994): Hey, du Leben!

Lukas war 19, sein Auslandsjahr in Indonesien näherte sich dem Ende. Felix, 21, besuchte ihn. Zum Abschied gingen sie in eine Bar, wo man ihnen gepanschten Alkohol einschenkte. Sie hatten noch viel vor.

Das wäre jetzt wieder so eine Sache, in die er sich hätte verbeißen können. Weil sie ungerecht ist und unrichtig. So etwas provozierte ihn zum Widerspruch, auch zum hartnäckigen, manchmal riskierte er dabei auch mehr, als andere vernünftig fanden. Aber zu bremsen wäre er kaum gewesen.

„Indonesia denies German brothers’ deaths suspicious“, meldet am 29. August die Online-Ausgabe von „Asia One“. Indonesien hält den Tod der deutschen Brüder nicht für verdächtig. Das sagt der zuständige Polizeichef und dementiert damit anderslautende Berichte vom Vortag. In denen war von vergiftetem Alkohol die Rede, von mit Methanol versetztem Whisky. Von einem Verbrechen also. Nichts davon sei richtig, teilt nun der Polizeichef mit. Es werde deshalb auch keine Ermittlungen geben. Es sei eine normale Alkoholvergiftung gewesen.

Das ist die letzte Meldung zu dem Fall. Und sie ist falsch.

Es gab Obduktionen, Berichte wurden inzwischen geschrieben und verschickt. Ergebnis: Tod durch Methanolvergiftung.

Wusste der Polizeichef das nicht? Warum hat er sich so entschieden geäußert, als noch gar nicht alles klar war? Hat er gelogen? Wollte er sein muslimisches Land vor den Schlagzeilen bewahren, die regelmäßig erscheinen, wenn wieder ein Mensch an gepanschtem Alkohol gestorben ist, Jahr um Jahr ein Dutzend Mal? Dachte er: Alkohol ist in Indonesien verboten, warum trinkt ihr?

Das sind so Fragen, über die Felix sich aufgeregt hätte. Weil die Fragen zu Abwägungen führen und die ganzen Abwägungen am Ende das Entscheidende vernebeln: das Ja oder Nein, richtig oder falsch, gelogen oder nicht gelogen. Lukas dagegen wäre die Diskussion vielleicht zu viel gewesen. Er hätte sich in sein Zimmer gesetzt an den Computer. Kopfhörer auf, Konsole her, Spiel frei.

Hätte und wäre. Es sind nur noch Mutmaßungen möglich.

Felix und Lukas sind die „German brothers“, von denen die internationalen Nachrichten berichteten, in den deutschen Zeitungen sind sie die „Berliner Brüder“. Sie sind tot, gestorben im Alter von 21 und 19 Jahren im Abstand von vier Tagen, weil ihre Organe versagten und ihre Gehirne geschädigt wurden, nachdem sie Whisky getrunken hatten, dem Kriminelle Methanol beigemengt hatten. Das ist eine billige Methode, um die Getränke zu strecken.

Die Brüder sind am Abend des 20. August mit zwei anderen jungen Männern und zwei jungen Frauen, indonesischen Freunden, unterwegs. Sie trinken Whisky-Longdrinks im Barber Shop, ein Laden, der tagsüber Frisör ist und abends Kneipe, es ist der Jugendtreff der Gegend, wo man hingeht, wenn man feiern möchte. Sie kennen das Lokal. Ein Satz von Bedeutung. Sie wissen um die Risiken von Alkoholkonsum in dem muslimischen Land, sind allerdings der Meinung, es einschätzen zu können.

Lukas, der Jüngere, ist zu dem Zeitpunkt seit fast einem Jahr in Indonesien. Er arbeitet im Rahmen eines Freiwilligenprogramms als Deutsch- und Englischlehrer an einer katholischen Privatschule nahe Semarang auf Java. Die Schule hat gleich nach Lukas’ Eintreffen an ihrer Einfahrt ein Hinweisschild mit einem großen Foto von ihm montiert. Ein echter Deutscher gebe hier Unterricht, steht stolz dabei. Lukas hat darüber gelacht, aber gefallen hat es ihm auch.

Und Felix hat zu Hause mit seinen Freunden über das Alkoholverbot in Indonesien gesprochen, sie haben sich unterhalten, ob es verantwortbar sei, dort trotzdem was zu trinken, oder ob man lieber nichts trinken solle. Wobei Felix klar war, dass die Frage in Indonesien, dem Land, das Rihanna- und Lady-Gaga-Konzerte aus Pietätsgründen verbietet, ein anderes Gewicht haben würde als am Kneipentisch in Berlin.

Felix ist nach Indonesien geflogen, wie immer neugierig auf eine neues Welterlebnis, um den jüngeren Bruder zu besuchen, kurz bevor dessen Auslandsjahr zu Ende sein und diese Gelegenheit vergehen würde. Drei Wochen haben sie zusammen verbracht. Fotos von ihren Ausflügen über Internet mit den Daheimgebliebenen geteilt. Zwei Jungs, die schon keine mehr sind, sportlich und braun gebrannt, die Sonne in den lachenden Gesichtern und die Arme vor der Brust verschränkt: Hey, du Leben, komm schon her, trau dich, wir sind bereit!

An dem Abend, bevor Felix’ Flug über Doha / Katar zurück nach Berlin gehen sollte, sind sie noch einmal in die Stammkneipe, den Barber Shop, gegangen. Und vielleicht hat Lukas den großen Bruder schon beneidet, dass der so bald wieder in Deutschland sein würde. Das Jahr, so toll es ist, es ist auch lang. Und nun, da es sich dem Ende nähert, keimt bereits eine Ungeduld in ihm. Vergleichbar der am Bahnsteig, wenn man sich bei allem Abschiedsschmerz wünscht, der Zug solle endlich losfahren.

Er ist in dem Jahr erwachsen geworden, wie man das nennt, wenn einer merkt, was Verantwortung ist. Lukas hat in den spartanischen Holzbettverhältnissen des fernen Landes entdeckt, dass auch er ein Boss sein kann. Derjenige, der einen Weg vorgibt. Hatte er bis dahin seinen unkomplizierten Charme einer gewissen, manchmal sehr großzügig ausgelegten Lässigkeit verdankt, nahm er nun auch Dinge ernst. Zum Beispiel das Lehrersein.

Einmal, als seine Eltern ihn besuchten, das war im März, wollen sie eine Tempelanlage besichtigen, die er längst kennt. Sie fahren gemeinsam im Taxi hin, doch dort angekommen, bleibt er beim Auto, um sich, während die Eltern auf Besichtigungstour gehen, mit dem Taxifahrer zu unterhalten. Und weil der oft Touristen befördert, bringt Lukas ihm ein paar nützliche deutsche und englische Sätze bei. Der Taxifahrer probiert das Gelernte an den Eltern aus, die später wieder mit im Auto sitzen, und ist hocherfreut, dass er verstanden wird.

Obwohl der Taxifahrer seitdem tausende andere Fahrgäste herumgefahren haben wird, erinnert er sich an die kurze Episode, als er – es ist inzwischen fast ein halbes Jahr vergangen – mitbekommt, was Unfassbares geschehen ist. Vielleicht, weil er die gelernten Sätze oft benutzt hat. Vielleicht, weil Lukas Indonesisch sprach. Er setzt sich hin und schreibt eine Beileidsnachricht auf Facebook.

Am Morgen nach der langen Nacht treffen sich drei der Jungs sehr verkatert noch einmal am Hotelpool. Felix geht schwimmen, Lukas liegt im Schatten und schläft. Richo, einer der indonesischen Freunde, der weniger getrunken hat, ist auch da. Der Vierte im Bunde krümmt sich zu Hause. Irgendwann muss Felix los Richtung Flughafen, und alle raffen sich hoch. Als die Maschine abgehoben hat, geht es Lukas so schlecht, dass Richo ihn ins Krankenhaus fährt. Der vierte Junge verliert infolge des Methanolkonsums sein Augenlicht. Und oben im Flugzeug kollabiert Felix.

Felix stürmt voran, Lukas lehnt sich zurück

Schon als Kinder sind die Brüder viel unterwegs. Mit ihren Eltern reisen sie nach Asien, Afrika, Amerika und lernen die Sehnsucht nach der Welt kennen. Das Auslandsjahr, das Lukas nach Indonesien führt, bringt zwei Jahre zuvor seinen Bruder nach Mexiko. Dieser lernt dort Spanisch, arbeitet in einem Kindergarten und versteht es, im Handumdrehen Freunde zu finden, Menschen zu erobern. Das liegt nicht nur an einem Grinsen, das breit übers Gesicht geht und das alle typisch nennen. Er hat so eine Art, gegenwärtig zu sein, sich einzulassen und aufzugehen in der Situation, in der er gerade ist. Ohne Scheu, ohne Berührungsangst. Wenn er in Berlin Freunde besucht, unterhält er sich auch mit deren Eltern, während die anderen Jungs so schnell wie möglich in den Zimmern verschwinden, was die Eltern jedes Mal begeistert: Endlich mal einer, der mit uns spricht! Und so ist auch die mexikanische Gastfamilie schnell entzückt von dem jungen Deutschen. Er sei ihnen wie ein eigener Sohn ans Herz gewachsen, schreiben sie. Dass das auch so gemeint ist, sieht man daran, dass der Gegenbesuch in Berlin nicht nur verabredet wird, sondern tatsächlich stattfindet.

Bei ihren vielen Ähnlichkeiten waren die Brüder in ihren Eroberungsstrategien vielleicht am unterschiedlichsten. Felix stürmte voran, Lukas wartete leicht zurückgelehnt ab. Er war, wo er war und wie er war, wer mochte, konnte dazukommen, wer nicht, der ließ es halt – auch kein Ding. Der Junge, der sich am ersten Schultag neben ihn setzte, wurde sein bester Freund, bis sich solche Zuschreibungen in einer größer werdenden Clique auflösten. Am Ende der Schulzeit waren sie etwa zu sechst, das war der harte Kern, und meistens trafen sie sich bei Lukas. Der bewohnte mit seinem Bruder eine Wohnung mit eigenem Eingang, die Eltern wohnten eine Etage darüber, eine Wendeltreppe verband die Wohnungen. Der separate Eingang war natürlich ein Pfund. Einmal merkte einer der Freunde am Ende einer langen Nacht, dass er irgendwo seinen Schlüssel verloren hatte. Bei sich zu Hause wollte er nicht klingeln, das hätte Ärger gegeben. Bei Lukas konnte man immer klingeln, der war locker.

Wenn sie bei ihm waren, saßen sie oft am Computer, spielten Spiele, aßen Cornflakes oder hockten einfach so herum. Auf seiner Facebookseite notiert Lukas unter Hobbys „Hochleistungschillen“. Sonst nichts. Es war eine Art Die- Welt-Vergessen, und manchmal mussten die Kumpels ihm eine herumliegende Socke an den Kopf werfen, damit er reagierte, weil er so versunken war in sein Computerspiel, Kopfhörer auf dem Kopf, Soundkartenlärm in den Ohren. Wenn ihn einer anpflaumte, dass er nicht so doof alleine am Computer spielen sollte, antwortete er: „Was denn? Du spielst doch auch alleine Bass!“, und dann konnten sie sich darüber schlapplachen.

Lukas hat seine Eltern oft gefragt, warum sie nicht in Kreuzberg wohnen statt in Friedenau, was ihm zu artig vorkam. Und so weit weg von allem, was interessant war. Immer wieder passierte es, dass er in der S-Bahn nach Hause einschlief und bis zur Endstation durchfuhr. Ein Stück der uncoolen Artigkeit hat er beim Sprayen vergessen. Manchmal waren er und ein paar Kumpels im Dunklen unterwegs, Dinge besprühen, die ihnen nicht gehörten. Felix war nur selten dabei; er fand, dass man Privathäuser nicht anmalen soll. Weil die jemandem gehören, und er es auch nicht hätte leiden können, wenn irgendjemand sein Haus besprayen würde.

Während Lukas’ Clique bei ihm zu Hause war, trafen sich Felix und seine Freunde, wenn das Wetter es hergab, auf der Retze, einem Spielplatz an der Retzdorffpromenade in ihrem Kiez. Ein Zaun, ein paar Kindergerüste in der Sandkiste, viele Bäume und viele Bänke. An den Eingängen längliche Verbotsschilder. Keine Hunde, keine Zigaretten, kein Alkohol, kein Lärm nach 20 Uhr – was mit Felix schwierig war. Wenn er da war, wurde es etwas lauter. „Jo Leute, was geht?“ Ein großer, breitschultriger Kerl war er, dessen Brustkorb viel Resonanzraum hergab.

Die Brüder machten Musik, schon seit Kindertagen. Nach Blockflöte und Saiteninstrumenten kamen sie beim Saxofon an. Felix spielte in der Bigband des Gymnasiums mit, und einmal spielte er den Wecker, was sich bei den Geweckten tief einbrannte. Sie waren auf Musikfahrt, einem jährlich stattfindenden einwöchigen Ausflug ins Niedersächsische, wo geübt und geprobt wurde und das musikassoziierte Wecken zum Programm gehörte. Bisher hatte einer der Lehrer mit einem Banjo die Aufgabe erledigt, doch der war inzwischen in Pension gegangen. Es war also Platz für etwas Neues. Und Felix griff zum Saxofon.

Eine Mitschülerin äußerte später, sie habe, als sich das „tiefe B“ dröhnend durch die Schullandheimgänge walzte, gedacht, das Haus stürze ein. Jedenfalls waren sofort alle knallwach.

Das „tiefe B“ blieb an Felix haften, es passte auch so gut zum Nachnamen: B wie Beckstett. Beim Abschlusskonzert jener Klassenfahrt gehörte es mit zum Programm. „Einen Ganzton unterm tiefen C liegt das tiefe B“, reimte ein Mitschüler, und die musikalische Ergänzung dazu war eben dieser Ton, sekundenlang gehalten von Felix auf seinem Saxofon. Ein irrer Auftritt. Und ein Wunder, dass sie alle ernst geblieben sind.

Die Retze blieb der Treffpunkt, auch als die Schule vorbei war und die Freunde sich über den Globus verstreuten. Felix ging zum Studieren nach Ingolstadt, was er sich in Mexiko überlegt hatte, von wo aus Deutschland sehr klein und alles dort sehr nah wirkte. In Ingolstadt studierte auch einer seiner Freunde, Max, mit dem er zusammenziehen wollte, und im nahe gelegenen Eichstätt studierte ein weiterer der Berliner Freunde. Sie würden einfach ihre halbe Clique nach Bayern verlegen. Das war der Plan.

Auf eine Art hat Felix sich verantwortlich gefühlt für seine Freunde, was für die auch mal nervig sein konnte. Den einen hielt er zum Lernen an, als der sich um Schule gar nicht mehr kümmern wollte und setzte sich dann auch direkt hin. Half bei den Hausaufgaben oder übte mit ihm. Und Max, seinem Ingolstädter Mitbewohner, setzte er zu, als der sich für ein Stipendium in China, das kurzfristig frei geworden war, nicht bewerben wollte. „Warum denn nicht?“, hat Felix gebohrt und ihm von Mexiko erzählt. Von Erlebnissen und Erfahrungen, die es zu Hause niemals geben werde.

Ungefähr zu der Zeit arbeitete da in Indonesien Lukas bereits an der Rede herum, die er an der Schule zum Abschluss seines Freiwilligenjahres halten sollte. Genau einen Tag, bevor sein Bruder kommen würde. „Die Entscheidung, nach Indonesien zu gehen“, schreibt er gleich an den Anfang des Manuskripts, „war eine der besten meines Lebens.“ Er habe so viel gelernt, auch über sich selbst. Dass er nicht so autonom und organisiert sei, wie er immer dachte, und dass es ihm schwerer gefallen sei, allein in der Fremde zurechtzukommen, als er angenommen habe. Aber dass ihn dann das Eintauchen in eine andere Welt rundum glücklich gemacht habe. „Kulturen sind nichts, was man sich durch Lesen aneignen kann“, schreibt er. Man müsse mit ihnen leben, um sie zu begreifen.

Lukas Beckstett mit seinen indonesischen Freunden Richo und Monica

© Privat

Mit dem neuen Freund Richo hatte er ausgemacht, dass er dessen Trauzeuge sein sollte. Aber erst wollten sie noch zum Tauchen nach Jepara fahren. Und dann sollte Richo nach Deutschland kommen. Lukas war gespannt darauf, wie verrückt und seltsam dem Indonesier das Berliner Leben vorkommen würde. Und Richos Freundin hatte er das Versprechen abgenommen, dass sie eines Tages ihr kleines Dorf verlassen und ein bisschen mehr von der Welt anschauen würde.

Als Felix in Ingolstadt die Koffer packt für den Trip nach Indonesien und losfliegt, hat sein Mitbewohnerfreund Max sich für das Jahr in China entschieden. Es soll losgehen, wenn Felix wieder zurück ist. In der Zwischenzeit können sie noch einiges unternehmen. Der Rückkehrtag wird per Smartphoneschriftverkehr zwischen Berlin und Semarang geplant.

„Jo, du kommst doch donnerstag wieder, hast du lust am donnerstagabend in Pain & Gain oder Kick Ass 2 zu gehen?“, schreibt Max, und Felix antwortet: „Na kla dicka – 22. bin ich wieder da.“

Die Nachricht ist vom 20. August, 10 Uhr 57. Später an dem Tag sind Felix, Lukas und die anderen dann losgezogen, um einen Abschied und ihre vielen Pläne zu feiern.

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