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Leicht sonnig? Der Protest auf dem Oranienplatz endet erst, wenn ihre Forderungen erfüllt sind, sagen die Flüchtlinge. Sie haben viele Unterstützer.

© AFP

Flüchtlinge am Oranienplatz: „Wir sind doch keine Kinder“

Werden die Flüchtlinge von linken Unterstützern instrumentalisiert? Dieser Vorwurf empört beide Seiten, vor allem die Flüchtlinge. Denn darum geht es ja gerade: um Selbstbestimmung.

Der Regen hämmert auf das Dach des blau-weiß gestreiften Zirkuszeltes am Oranienplatz. Das einzige Licht, das den Innenraum beleuchtet, flackert, geht immer wieder aus – das Kabel ist gebrochen. Und es ist bitterkalt. Patras Bwansi, 33 Jahre alt, aus Uganda, zieht seinen Schal ein wenig fester und erklärt laut auf Englisch: „Ich habe etwas zu sagen.“ Es ist kurz nach 17 Uhr, Plenumszeit am Oranienplatz, gemeinsam mit ihm sitzen etwa 20 weitere Menschen im Zelt auf Bierbänken und alten Sofas, es sind viele Flüchtlinge da und viele deutsche Unterstützer. Vor Bwansi steht ein kleiner Computer, er liest - auf Englisch - vom Bildschirm ab: „Das Gerede, wir würden nur am Oranienplatz bleiben, weil wir von Unterstützern dazu überredet werden, ist eine falsche Darstellung geschichtlicher Fakten und eine Diffamierung des selbstorganisierten Geflüchteten Protestes. Es ist eine kolonial geprägte Sichtweise der Tatsachen.“ Als Bwansi endet, klatschen die Anwesenden.

Bwansi ist einer der Organisatoren des Flüchtlingsprotests, von Anfang an übernachtete er auf dem Oranienplatz, bis heute schläft er meistens in einem der grauen Zelte auf einer alten Matratze. Die Sätze, die er im Zirkuszelt vom Computer abliest, sind Teil eines offenen Briefs an den Berliner Senat. Am Vortag haben die Flüchtlinge im Plenum beschlossen, dem Innensenator und seinen Kollegen zu erklären, dass sie den Platz nicht räumen werden, solange ihre Forderungen nicht erfüllt sind. Bis kurz vor dem Plenum hat Bwansi an dem Text gearbeitet. Es hat länger gedauert als geplant, weil er in dem Brief auch auf den Vorwurf reagieren wollte, die Flüchtlinge würden instrumentalisiert.

In den vergangenen Wochen – vor allem seit dem missglückten Räumungsversuch vor fast zwei Wochen – hieß es öfter in Medien und Politik, hinter den protestierenden Flüchtlingen stecke eine politische Macht. Linke Gruppen würden Asylbewerber für eigene Zwecke instrumentalisieren, sagte zum Beispiel Burkard Dregger, integrationspolitischer Sprecher der CDU. Auch SPD-Fraktionschef Andy Hehmke erklärte, die Unterstützer benutzten die Flüchtlinge für ihre Ziele. Einer der ersten, der davon sprach, war der Schauspieler Charles M. Huber. Der Halbsenegalese ist bekannt aus der ZDF-Krimiserie „Der Alte“ und seit der Bundestagswahl CDU-Abgeordneter in Berlin. Er sprach von den Flüchtlingen im bayerischen Böbrach, die mit einem Hungerstreik gegen die Unterbringung im Flüchtlingsheim protestierten. Nicht nur in Berlin demonstrieren Flüchtlinge für mehr Rechte.

Hinter diesen Behauptungen steht die Frage: Wie kann es sein, dass Flüchtlinge so fordernd auftreten? Dass sie sich trauen, den Staat mit Hungerstreik und Protestcamps unter Druck zu setzen? Wenige Tage nach dem Plenum im Zirkuszelt sitzt Patras Bwansi im Café Kotti am Kottbusser Tor. Im Winter ist das Café so etwas wie die inoffizielle Zentrale des Protests. Hier ist es warm, man muss nichts konsumieren, man kann kostenlos ins Internet.

Bwansi erklärt, deutsche Freunde hätten ihm von den Zeitungsartikeln und Kommentaren erzählt, in denen es heißt, er und die anderen würden nicht aus freien Stücken auf dem Oranienplatz protestieren, sondern weil sie dazu gedrängt würden. Noch spricht er kaum deutsch, er kann die Artikel nicht selbst lesen. „Das ist Bullshit“, sagt er, und schüttelt den Kopf. „Wir sind doch keine Kinder. Niemand sagt mir, was ich tun muss.“ Er schnaubt. „Und natürlich sind wir auf Unterstützung von Deutschen angewiesen, auch von politischen Gruppen. Je mehr Menschen sich mit uns solidarisieren, desto besser, desto schneller werden unsere Forderungen erfüllt.“

Patras Bwansi war nicht nur bei der Organisation des Flüchtlingscamps dabei. Er hat auch den Protestmarsch vorbereitet, der das Camp überhaupt nach Berlin gebracht hat. Der Marsch startete im August 2012 an einem Protestcamp in Würzburg und sammelte anschließend an Asylbewerberheimen in ganz Deutschland Flüchtlinge ein. Schon in seiner Heimat Uganda war Bwansi politisch aktiv, er setzte sich für die Rechte von Homosexuellen ein. Als er deshalb vor mehr als zwei Jahren sein Land verlassen musste – in Uganda ist Homosexualität strafbar – organisierten Freunde die Ausreise nach Deutschland. Bwansi landete in einem Flüchtlingsheim in Passau. Dort erfuhr er über andere Flüchtlinge von „The Voice Refugee Forum“. Das Netzwerk haben Flüchtlinge 1994 im Asylbewerberheim Mühlhausen in Thüringen gegründet, ursprünglich unter dem Namen „The Voice Africa Forum“ und mit dem Ziel, afrikanische Diktatoren anzuklagen.

In den folgenden Jahren gründeten sich weitere Gruppen in anderen Flüchtlingsheimen. Mit der Zeit hat sich der Fokus von „The Voice“ verschoben, heute kämpft das Netzwerk in erster Linie für die Rechte von Flüchtlingen in Deutschland. Die Forderungen gleichen denen, die die Flüchtlinge vom Oranienplatz zur Bedingung einer Räumung gemacht haben: Abschaffung der Residenzpflicht, Verbot von Abschiebungen, Abschaffung der Flüchtlingsheime, Recht auf freie Wahl des Wohnortes, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung. Im März 2012 richteten iranische Flüchtlinge das erste Protestcamp in Würzburg ein, nachdem sich ein weiterer Asylbewerber in einer Flüchtlingsunterkunft der Stadt das Leben genommen hatte.

Am 10. August 2012 verließ Bwansi mit anderen Flüchtlingen sein Heim und zog in den Passauer Klostergarten, in ein Protestcamp. Von dort aus half er später, den Protestmarsch nach Berlin zu koordinieren. Am 12. Oktober 2012 kam Bwansi am Oranienplatz an. Seitdem hat er das Berliner Protestcamp so gut wie nie verlassen. Im März dieses Jahres erfuhr er von Freunden in Passau, dass er abgeschoben werden soll. Mittlerweile hat er den achtseitigen Bescheid bei sich. Das habe ihn nur noch mehr motiviert, weiterzukämpfen, sagt er heute. Den Oranienplatz nennt er „unseren Kampfplatz“. „Wenn wir dort nicht mehr übernachten dürfen, verliert der Protest an Stärke. Die meisten Flüchtlinge werden dann nicht mehr kommen, jeder würde wieder seines Weges gehen“, sagt er. Europa habe Verantwortung gegenüber Afrika. Die ehemaligen Kolonialstaaten trügen eine Mitschuld daran, dass der Kontinent kaputt sei. Diese Thesen sind auch seine wichtigste Legitimation für den Protest. Und sie sind es für viele andere Flüchtlinge am Oranienplatz.

Alinka Seth hat sich jetzt im Café Kotti neben Patras Bwansi gesetzt. Die Mittfünfzigerin engagiert sich seit Jahren gegen Rassismus und für Menschenrechte, sie ist oft am Oranienplatz. Als das Protestcamp startete, war es für sie ganz logisch, dass sie die Flüchtlinge unterstützen würde. Jetzt will sie mit Patras Bwansa über eine Veranstaltung im Rathaus Schöneberg sprechen, die sie organisiert, es geht um gute Nachbarschaft. Sie möchte, dass er kommt. „Kannst du mir mehr Informationen geben?“ fragt Bwansi und reicht Seth einen USB-Stick.

Auch Ingo Sundmacher, ein kleiner Mann um die 40 mit Nickelbrille und Halbglatze, sitzt neben Bwansi im Café Kotti, in einem abgewetzten Sessel. Seit diesem Sommer ist auch er regelmäßig auf dem Oranienplatz. Er ist mit Napuli Langa verabredet, einer Sudanesin, die auch auf dem Oranienplatz lebt. Sundmacher wird Langa gleich zum Zahnarzt in Friedrichshain bringen. Auf die Frage, was er vom Vorwurf der Instrumentalisierung der Flüchtlinge halte, sagt er: „Das ist Blödsinn. Es liegt in der Natur der Sache, dass Menschen mit linken Einstellungen den Protest der Flüchtlinge unterstützen. Wer aber von Instrumentalisierung spricht, war nie auf dem Platz.“

Sundmacher ist Übersetzer für skandinavische Sprachen. Im Sommer besuchte er mit einer befreundeten Fotografin das erste Mal das Camp am Oranienplatz. Die beiden planten eine Ausstellung über die Flüchtlinge – sie würde die Fotos machen, er die Geschichten der Flüchtlinge erzählen – und verbrachten viel Zeit auf dem Platz und in den Zelten. „Ich bin in die Unterstützerrolle reingewachsen“, sagt Sundmacher. „Irgendwann bat mich ein Flüchtling, die Kirche im Bezirk zu fragen, ob sie das Camp mit Lebensmittelspenden unterstützen können.“ Er übernahm regelmäßig Aufgaben, brachte Flüchtlinge zum Arzt und zu Behörden. Auf die Frage, ob das Camp am Oranienplatz bleiben soll, sagt Sundmacher: „Entscheidend ist nicht, was ich denke. Entscheidend ist, was die Flüchtlinge sagen.“

So ist es immer, wenn man mit den Unterstützern spricht. Sie sagen, „wir wollen uns nicht in den Vordergrund stellen“, „die Flüchtlinge sind die Protagonisten.“ Ingo Sundmacher sagt jetzt, „frag lieber Napuli, es ist ihr Protest." Napuli Langa, eine hochgewachsene junge Frau Ende 20 mit auffallendem Afro, lebt auch seit Oktober 2012 am Oranienplatz, sogar ein Zelt ist nach ihr benannt. Sie kam mit einem Bus aus einem Flüchtlingsheim in Braunschweig. Im Sudan war sie Mitarbeiterin der Sonad, der sudanesischen Organisation gegen Gewalt und für Entwicklung.

Auf die Frage nach der Zukunft des Oranienplatzes antwortet sie, dass sie nicht gehe, solange die Forderungen der Flüchtlinge nicht erfüllt seien. „In einer Unterkunft wie im Wedding leben wir doch auch wie in einem Flüchtlingsheim. Wir müssen uns den Regeln unterwerfen, zu siebt in einem Zimmer schlafen.“ Dann erklärt sie, dass sie kein Haus und kein Geld vom deutschen Staat wolle, sondern Rechte. „Der Staat macht mich zum abhängigen Kind, zum Bettler. Ich will für mich selbst sorgen, arbeiten, eine Wohnung suchen.“ Die deutschen Unterstützer wollen offiziell nichts sagen, um nicht von den Flüchtlingen abzulenken. Von den Unterstützern erklärt sich nur Dirk Stegemann, 46, zu einem Treffen bereit. Er half im Spätsommer 2012, das Protestcamp am Oranienplatz vorzubereiten, er meldete den ersten Hungerstreik der Flüchtlinge am Brandenburger Tor an und viele weitere Demonstrationen. Gibt man im Internet seinen Namen ein, steht auf rechten Webseiten oft Linksextremist daneben. Stegemann nennt sich selbst Vollzeitaktivist. Er wurde von Klaus Wowereit 2011 mit dem „Band für Mut und Verständigung“ ausgezeichnet.

In einem Café in der Nähe des Oranienplatzes erklärt Stegemann, die Unterstützer seien eine heterogene Gruppe, die sich ständig verändere. „Gemeinsam ist ihnen die Einstellung, dass die universellen Menschenrechte für alle gelten. Dass das Recht auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe, das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Arbeit und Wohnung, der freie Zugang zu Bildung keine deutschen Privilegien sind.“

Am Tag, an dem Patras Bwansi seinen Brief an den Senat im Zirkuszelt vorliest, besucht Hans-Christian Ströbele, grüner Bundestagsabgeordneter, den Oranienplatz. Er will vermitteln zwischen Politik und Flüchtlingen. Am Feuer, das in der Mitte des Platzes in einer Tonne brennt, erklärt er, um die Räumung zu verhindern, müssten die meisten Zelte abgebaut werden. „Nur wer unbedingt hier bleiben muss, weil er nirgendwo sonst schlafen kann, sollte hier bleiben.“ Die Flüchtlinge schütteln den Kopf. Ein Flüchtling aus Mali, etwa Ende 20, fragt Ströbele, „wann werden unsere Forderungen erfüllt?“ Alle Flüchtlinge blicken auf Ströbele. Der sagt erst nichts, erklärt dann, die Bundesregierung müsse sich erst bilden, dann müsse der Bundestag zusammenkommen und überhaupt habe seine Partei ja nur ein bisschen mehr als acht Prozent. Es liege nicht an ihm.

Als er gegangen ist, stehen ein paar Flüchtlinge, auch Napuli Langa, und ein paar Unterstützer, auch Ingo Sundmacher und Alinka Seth, noch eine Weile gemeinsam um das Feuer. Auf dem Platz ist es kalt, es nieselt. Flammen schlagen den Umstehenden immer wieder entgegen, trotzdem halten sie die Hände über das Feuer. Es sieht so aus, als könnten sie sich verbrennen. Aber keiner zieht die Hand zurück.

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