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Zwei Korpsstudenten in voller Montur kreuzen die Säbel, umgeben von einer Gruppe Burschenschaftler.

© Berliner Leben

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Das Blut muss fließen

Ehre geht vor Recht im Kaiserreich. Wer mit Schneid studiert, tritt einer schlagenden Verbindung bei. Die Wunden, die hier im Zweikampf unter Männern eingesteckt werden, sind Ehrenzeichen - und fördern die Karriere.

Die Front verläuft mitten durch die Hörsäle, und die männliche Ehre ist ein zartes Ding. Sehr verletzlich. Ein abschätziger Blick, ein falsches Wort – oder was man dafür halten möchte, schon ist Satisfaktion fällig. "Auf der Mensur" ist das Foto betitelt, das in der Maiausgabe 1904 der Zeitschrift "Berliner Leben" erscheint. Zwei Paukanten stehen sich, umringt von ihren Korpsbrüdern, in voller Montur mit erhobenen Degen gegenüber, zum Schutz ihrer Augenpartien tragen sie Paukbrillen. Im Hintergrund erhält ein Kamerad, der sich kurz zuvor geschlagen hat, gerade einen Kopfverband. Hier werden keine Duelle gefochten, es geht nicht um Leben und Tod, sondern um "Schneidigkeit". Im Zweikampf unter Männern gilt es, den Streichen des Gegners tapfer die Stirn zu bieten. Die Wunden, die hier geschlagen werden, sind Ehrenzeichen. Sie werden mit Stolz getragen. Wahre Herrenmenschen empfehlen sich mit Schmiss. Die Ehre zählt mehr als das Recht. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 behandelt den "Zweikampf mit tödlichen Waffen" als Sondertatbestand. Duellanten droht die Festungshaft, die anders als die Gefängnis- oder Zuchthaushaft nicht als entehrend gilt. Der Arrest sieht keinen Arbeitszwang vor, Tabak und Alkohol sind erlaubt, sogar Freigang ist möglich. Die Gerichte lassen für gewöhnlich Milde walten. Sie sind mit Männern besetzt, die sich dem ritterlichen Ehrenkodex ebenfalls verpflichtet fühlen.

Ihre wichtigste Parole lautet: "Deutschland über alles!"

7100 immatrikulierte Studenten zählt die Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität im Wintersemester 1906/1907, dazu kommen 5750 männliche und 550 weibliche Gasthörer. Frauen dürfen in Preußen erst ab 1909 studieren. Einstweilen bleiben die Herren unter sich, organisiert in zahlreichen Vereinen – Korps, Burschenschaften, Turnerschaften, Landsmannschaften, Sängerschaften, wissenschaftlichen Zirkeln und konfessionellen Bünden. Je großmächtiger sich das kaiserliche Imperium aufführt, desto großmäuliger treten die radikal nationalistischen Korpsstudenten auf. Sie heißen Thuringia, Rugia und Teutonia - und ihre wichtigste Parole lautet: „Deutschland über alles!“ "In diesen Verbindungen werden Kastengeist und Hurrapatriotismus gezüchtet, nebst Arroganz und einem guten Teil Missachtung gegenüber allen nichtinkorporierten Studenten", vermerkt der Schriftsteller Ernst Edgar Reimerdes. "Mit Vorliebe treten geistig Minderbemittelte feudalen Verbindungen bei, weil sie so für ihre spätere Karriere Vorteile durch Protektion seitens hochgestellter 'alter Herren' erhoffen."

Viel Zeit für die universitären Verpflichtungen bleibt den Korpsbrüdern nicht, der Drill ist streng und tagesfüllend. Mancher Student lässt sich sogar bei den Pflichttestaten von Freunden vertreten. Kampfesmutig und trinkfest müssen die schlagenden Herren sein, wenn sie zur Elite der Nation aufschließen wollen. Die Auswahl ist hart: "Von fünf bis sechs Leuten, die als Füchse eintraten, kam höchstens einer in den dauernden Besitz des Korpsbandes, so stark wurde ausgesiebt. Und das große Sieb hieß: die Mensur! das Fechten!", erinnert sich der Arzt Carl Credé an seine Verbindungszeit. "Nach eineinhalb Semestern waren vierzehn von den sechsundreißig Partien ausgefochten, davon blieben zwei unentschieden, zwölfmal hatten wir abgestochen, und 'wie' hatten wir abgestochen. Mehrfach mussten unsere Gegenpaukanten zum Zusammenflicken in die chirurgische Universitätsklinik eingeliefert werden." Die Tortur lohnt sich: Nie wieder bringen Suff und Hauerei den deutschen Mann weiter voran als im Kaiserreich.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter: www.tagesspiegel.de/fraktur

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