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Fünf Jahre Berliner Hauptbahnhof: Ein Paradies für Aussteiger

Vor fünf Jahren öffnete der Hauptbahnhof – was an diesem Wochenende groß gefeiert wird. Ist der Jubel überhaupt berechtigt? Eine Inspektion vom Keller bis zum Dach in Europas größter Kreuzungsstation.

Innen hui, außen pfui – eine ungewohnte, ja riskante Kombination. Der Anzugträger, der gerade fotografierend durch die Automatiktür auf den Europaplatz tritt, muss sich dort dort nacheinander vor einem Taxi, einem scharfkantigen Poller und einem Haufen Fahrräder in Acht nehmen. „Das hier ist ja nicht so prickelnd“, sagt der Mann, der sich als Rasmus Nilles aus Duisburg vorstellt und auf dem Weg zu seinem Termin in Berlin extra Station am Hauptbahnhof gemacht hat. „Der absolute Knaller“ sei dieses Bauwerk – völlig weltstadtgemäß. Hinter Rasmus folgen weitere Reisende, die ihre Blicke schweifen lassen. Wie besonders der Hauptbahnhof ist, zeigt dieses Wochenende: Wer bekommt zum fünften Geburtstag schon ein zweitägiges Fest spendiert?

Apropos spendiert: Während viele ländliche Bahnhöfe verwaisen und verkommen, bündelt die Bahn hier ihre Ressourcen. Das Resultat ist ein Glanz, gegen den die unfertige Umgebung umso schäbiger wirkt. Hauptbahnhof hui, Hauptstadt pfui. Die hält als nächste Prüfung für Rasmus Nilles den Weg zum M41er-Bus bereit. Haltestelle 3, zeigt die Abfahrtstafel. Wo die ist, zeigt sie nicht. Wer gute Augen hat, sieht den Bus, wie er neben den Imbissbuden auf die Invalidenstraße einbiegt und dort oft alle drei Fahrspuren blockiert, bis seine Ampel grün wird. Aber vorher muss Nilles die Straße überqueren, was bei Beachtung der Fußgängerampeln fast drei Minuten Wartezeit bedeutet. Die meisten Reisenden versammeln sich dabei auf dem Bürgersteig-Radweg, der zusammen mit der absurd engen Autowendeschleife auf der Nordseite, den wie von Riesenhand verstreuten Betonwürfeln im Süden und den Falschparkerhorden die vermurkste Verkehrsführung komplettiert. Auf der Südseite lässt der Senat immerhin die Asphaltödnis verschönern. Im Norden muss die Straßenbahn gebaut werden, deren Verspätung etwa dem Alter des Hauptbahnhofs entspricht. Danach wird die S 21 gegraben, wahrscheinlich bis 2017. Nilles dreht sich noch einmal zum Bahnhof um und rekapituliert: War da nicht was mit dem Dach? Und mit einem abgestürzten Fassadenteil?

Als 2007 ein Träger in die Tiefe stürzt, war nicht nur die Fassade ramponiert

Als Orkan Kyrill im Januar 2007 eine Stahlstrebe von der Südfassade holte, war nicht nur die darunterliegende Freitreppe angeschlagen, sondern auch das Ansehen des Bahnhofs. Jetzt ist die Fassade sturmsicher und das Image auch. Ein Bummel durch den Bahnhof zeigt, dass trotz saftiger Mieten und der noch immer nur eingeschränkt möglichen Sonntagsöffnung keine Läden leer stehen und kein Platz für die Schattenseiten des Weltstadtlebens bleibt. Dreckecken, Schmierereien, Müll? Gut, vor McDonald’s im Untergeschoss quillt gerade der Behälter über, aber sonst sehen selbst die entlegenen Ecken aus wie neu. Pöbler, Bettler, Trinker? Über dem südlichen Ende der Tiefbahnsteige hat die Bahn kürzlich einen Wartebereich eingerichtet. Der junge Mann, der dort sitzt und Uringestank verbreitet, schreckt bereits bei der Frage hoch, ob er schon mal vertrieben worden sei. „Sitzen kann man, aber komische Geräusche machen darf man nicht“, sagt er mit scheuem Grinsen und zieht von dannen. Zurück bleibt die Hobbykelleratmosphäre des Ortes, der nur von Neonröhren erhellt wird. Für die wenigen Bereiche des Hauptbahnhofs, in die kein Tageslicht fällt, hatte der Architekt Meinhard von Gerkan jenes kathedralenhafte Gewölbe entworfen, das die Bahn unter Hartmut Mehdorn durch eine Flachdecke ersetzen ließ. So wie sie das gläserne Dach verkürzte, um den Bahnhof pünktlich vor der Fußball-WM 2006 eröffnen zu können. Zum ersten Geburtstag wünschten noch viele dem Bahnhof das lange Dach, doch davon ist kaum mehr die Rede. Auf einer Fanseite im Internet erklären Bahnhofsfreunde den Makel zum Vorzug und schwärmen vom freien Blick. Auch die Flachdecke wird verteidigt mit dem Hinweis, dass Gerkans Gewölbe vielleicht genau den Tick überkandidelt wäre, mit dem die Eitelkeit des Schöpfers über die Funktion siegt.

Thomas Hesse kann beweisen, dass der Hauptbahnhof kein unpraktisches Designerstück ist. Als Bahnhofsmanager ist er der Chef von 100 der rund 400 Konzernleute, die hier arbeiten. Inklusive der beiden Büro-Bügel, deren Rohlinge vor fünf Jahren spektakulär über die Halle geklappt wurden, arbeiten inzwischen 2000 Menschen im Bahnhof. Hesse, ein bärtiger Sachse, führt von einem erfüllten Kundenwunsch zum nächsten: Mehr Sitzgelegenheiten, zusätzliche Uhren, Hinweise in Brailleschrift an den Treppengeländern, Schließfächer an den Eingängen zum Parkhaus statt der anfänglichen Warterei vor der Gepäckaufbewahrung mit Antiterror-Röntgengerät. Die Existenz des Parkhauses hat sich herumgesprochen. Im Laufe dieses Jahres sollen auch die Fahrscheinautomaten der S-Bahn umziehen, die zurzeit an der engsten Stelle des Bahnsteigs stehen. Und nachdem der heimatverbundene Verkehrsminister Ramsauer die Laptops in Klapprechner umgetauft hat, zieht die Bahn mit ihrem Deutschkurs nach: Gerade wurden die beiden Service Points in „DB Information“ umbenannt. Mal sehen, ob auch die „Kiss & Ride“ genannte Gratis-Viertelstunde im Parkhaus noch lange so heißt. Für beides ist die Zeit so oder so arg knapp.

Wenn Hesse auf das mitunter beängstigende Gedränge auf den teils schmalen Fernbahnsteigen angesprochen wird, reagiert er dienstlich: „Das ist vom Eisenbahn-Bundesamt zugelassen und freigegeben.“ Bisher sei nichts passiert. Dann klingelt sein Telefon: Ein russischer Radiosender verabredet ein Interview. Der Kurswagen nach Nowosibirsk bildet die längste Direktverbindung: Samstag los, Mittwoch da, umsteigefrei.

Für ein Foto stellt sich Hesse zwischen die Schüler aus Pfullingen bei Reutlingen, die mit dem Bahnhofsbesuch ihre Berlinreise krönen. Sie lehnen an der ergonomischen Holzbalustrade und träumen den Zügen im Untergeschoss hinterher. „Da drückt das Grundwasser mit 20 Tonnen pro Quadratmeter“, sagt Hesse. „Und kein Tropfen kommt durch.“ Während in Sichtweite mit zweistelligen Millionenbeträgen der Baupfusch im Regierungsviertel beseitigt wird, haben die Erbauer des Hauptbahnhofs Spitzenqualität abgeliefert. Weil das Besucherinteresse auch nach 2000 Führungen nicht nachlässt, gibt es inzwischen einen hauptamtlichen Guide plus zehn Honorarkräfte.

Hesse muss los, eine dänische Delegation wartet. Sie kommt vom Partnerbahnhof Kopenhagen, einem von sechs. Mit Partnern wird man besser, sagt Hesse: In Paris habe man die energiesparenden Infrarotstrahler für den Wartebereich entdeckt, während die Zürcher sich fürs Berliner Blindenleitsysem interessieren. Im Gehen sagt Hesse noch, dass man sich zum Geburtstag ja etwas wünschen dürfe. Er hätte gern ein urbanes Umfeld, das mit dem Bahnhof mithalten kann.

Der Lobbyverband Allianz pro Schiene hat den Hauptbahnhof 2007 zur kundenfreundlichsten Station des Jahres gekürt. In der Würdigung steht sinngemäß, dass die Bahn aus einem ohnehin genialen Bauwerk das Beste für ihre Kunden gemacht habe. „Man kann ihn lieben, man kann ihn hassen“, begann die Laudatio. Dann folgten lauter Gründe, ihn zu lieben.

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