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FÜNF  MINUTEN  STADT: Nur nicht schlafen

Sonntagvormittag, die S-Bahn rollt langsam aus dem Bahnhof Alexanderplatz, nimmt Fahrt auf. Auf den Platz rechts setzt sich ein Mann in dunkelblauer Arbeitsjacke, zwischen seine Füße klemmt er Plastiktüten.

Sonntagvormittag, die S-Bahn rollt langsam aus dem Bahnhof Alexanderplatz, nimmt Fahrt auf. Auf den Platz rechts setzt sich ein Mann in dunkelblauer Arbeitsjacke, zwischen seine Füße klemmt er Plastiktüten. Die Sonne scheint durch die Fenster, wärmt den Rücken. Die Schultern des Mannes entspannen sich. „Le soleil“, seufzt er. „Formidable.“ Er lächelt. „Wie lange bleibt das Wetter so schön?“ Ein Blick in die Zeitung der Sitznachbarin, auf das Regenwölkchen, das über der Sonne im Wetterbericht hängt. „Oh“, sagt der Mann, seine Augenlider sind dick, seine Haut ist dunkel wie die Nacht. „Ich habe Flaschen gesammelt“, sagt er, „die ganze Nacht, bis jetzt.“ Es ist kurz nach zehn Uhr. „Wissen Sie, ich werde heute nicht schlafen, ich werde nicht nach Hause gehen, wenn die Sonne so schön scheint.“ Wohin werden Sie gehen? An die Spree? „Ja, vielleicht. Ein bisschen spazieren, ein bisschen die Augen zumachen. Nur nicht schlafen.“ Er nickt, er ist müde. „Was für ein Sommer! Der verrückteste seit 37 Jahren in Berlin.“ 37 Jahre! Flaschen gesammelt die ganze Nacht! Wo kommen Sie denn ... Friedrichstraße. Aussteigen, umsteigen. Sitzen bleiben wäre schöner, aber nein, weiter, zur Arbeit. Runter die Rolltreppe. Ein letzter Blick raus. Le soleil! Formidable! Bon voyage! Katja Reimann

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