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© dpa

Gedenkveranstaltung: Große Pause zum Nachdenken

Mit Schweigeminuten und Gebeten reagierten Berliner Schulen auf die Gewalttat von Winnenden. Pädagogen und Schüler warnten vor den Folgen von Ausgrenzung und alltäglichem Mobbing.

Der Schock nach dem Amoklauf von Winnenden sitzt tief: Um der Opfer zu gedenken und um zu trauern, gab es gestern zahlreiche Versammlungen und Gottesdienste. So auch im Berliner Dom, wo um 12 Uhr eine Andacht abgehalten wurde. Vor dem Altar standen 16 flackernde Kerzen – eine für jeden vom Amokläufer Getöteten, sowie eine für den toten Säugling, der am Montag in einem Container in Berlin entdeckt worden war.

Auch am Beethoven-Gymnasium in Lankwitz nahm man sich Zeit zum Nachdenken. „Wer sich akzeptiert fühlt, begeht keine Kurzschlusshandlungen, das ist unser aller Chance, die wir entschlossen nutzen sollten. Ich danke euch.“ Mit diesen Worten beendete Direktor Wolfgang Harnischfeger seine Rede vor den Schülern. Danach wurde diskutiert: „Viele Jüngere hatten bis dahin gar nichts von dem Amoklauf mitbekommen“, sagt der Oberstufenschüler Niklas Kuck. Das habe ihm sein kleiner Bruder erzählt. Die Rede sei wichtig gewesen, um vor allem die jungen Schüler für das Thema zu sensibilisieren. Die Älteren seien aufgeklärter und hätten von selbst diskutiert.

Der 19-Jährige sitzt mit seinen Mitschülern in der Cafeteria. Er kann sich nicht vorstellen, das eine solche Tat an seiner Schule passieren könnte. Das habe aber nichts damit zu tun, ob man in einem elitären Umfeld oder einem sozialen Brennpunkt zur Schule gehe. „Unserem Direktor und den Lehrern ist das soziale Klima total wichtig, und das ist es, was zählt.“

„Schon wieder ein Amoklauf“, hat Lena Stamm gedacht, als sie von der Tat erfuhr. Sie sitzt mit ihren Freundinnen am Nachbartisch von Niklas. Viele seien fassungslos gewesen, als sie sich vor Augen gerufen hätten, „dass die Schüler bei ihrem Tod noch die Stifte in den Händen hielten.“ Lena Stamm redete gestern auch mit ihrer kleinen Schwester. Die war besorgt, weil sie im Sommer erst an eine Schule gewechselt hat, „die sie noch nicht einschätzen kann.“

Lena glaubt nicht, dass „der Typ Amokläufer“ an aggressivem Verhalten zu erkennen sei. „Sprücheklopfer sind harmlos.“ Wer dagegen im Internet eine Tat ankündige, müsse ernst genommen werden. Die jungen Frauen am Tisch vermuten, dass alles mit verbaler Gewalt und Mobbing anfange. „Wenn man so 14, 15 Jahre alt ist, kommt es zu Cliquenbildung, Lästerei und Ausgrenzung. Und es gibt immer welche, die keine Freunde haben“, sagt Sally Pons. Nicht jeder aber habe die Charakterstärke, das auszuhalten, sich selbst zu integrieren, oder sich auf der anderen Seite dem Gruppenzwang entgegenzusetzen und sich für jemanden einzusetzen.

Isabel Egerland erinnert sich an einen Fall aus der Schulzeit ihrer Schwester, der alle am Tisch erschüttert: „Sie hat mir erzählt, dass vor zehn Jahren ein Elftklässler aus Lankwitz Selbstmord begangen hat. Das soll auch ein unauffälliger, ruhiger Typ gewesen sein.“ Die Gruppe ist sich einig, dass es daher wichtig sei, zumindest außerhalb der Schule ein Umfeld zu haben, „in dem man integriert und wirklich glücklich ist.“

Dafür zu sorgen, dass niemand außerhalb seiner Klasse oder Gruppe steht, bat Direktor Harnischfeger auch die Schüler in seiner Rede. Emanuel Bender findet, dass die soziale Kompetenz der Schüler gestärkt werden sollte. „Die wissen meist mehr als die Eltern oder Lehrer, die jugendliches Verhalten oft als pubertär einstufen. Wir müssen verstehen lernen, wie wir mit möglichen Ahnungen umgehen sollten.“ Das sei wichtiger, als allein über gewaltätige Videospiele als Auslöser für solche Taten zu diskutieren, meint Emanuel. Und Niklas überlegt: „Vielleicht klingt es zu gefasst, aber in letzter Zeit wurde über so viele Amokfälle berichtet. Durch die Art, wie sogenannte Experten diskutieren, kann man auch abstumpfen.“

Der beste Weg, mit Ängsten umzugehen, sei es, sie zu thematisieren, meint Direktor Harnischfeger. So sieht es auch die Direktorin des Gymnasiums Steglitz, Michaela Stein-Kramer. „Eine Schule muss Rituale entwickeln und darf die Schüler nicht alleinelassen.“ An ihrer Schule habe es eine Schweigeminute gegeben, und viele der Lehrer hätten in der ersten Stunde mit ihren Schülern über ihre Gefühle gesprochen – und wie eine derartige Tat verhindert werden könnte. „Meine Schüler sind sofort auf die soziale Ebene gegangen.“ Gemeinsam hätten sie beschlossen, auf der Website der Schule ein Beileidsschreiben zu formulieren.

Auch am Lichtenrader Ulrich-von-Hutten-Gymnasium ergriffen Schüler die Initiative: Auf einer Versammlung am Morgen beschlossen sie, mittags auf dem Schulhof zusammenzukommen. „Lass mich glauben, dass es mehr gibt, als ich zu hoffen wage, dass Licht wird, wo Dunkel ist, dass Freude wächst, wo Trauer herrscht“ – Schülersprecherin Lara Gross verlas ein Gebet, das der Religionslehrer auf ihre Bitte hin herausgesucht hatte.

„Es gab Klassen, die haben kollektiv geweint“, beschreibt Direktor Thomas Hungs später die Stimmung in seiner Schule. Vor allem die jüngeren Schüler habe das Geschehen von Winnenden sehr berührt. Deshalb sei es gut gewesen, dass sich alle 900 Schüler und Lehrer mittags zusammengefunden hätten. Auch ein Kondolenzbuch ist an der Schule ausgelegt worden.

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