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Berlin: Gentests für Männer: Die Angst vor dem gläsernen Menschen

Für viele Kriminalisten ist es eine verlockende Vorstellung: Alle männlichen Bürger müssen - sagen wir mal - nach dem 18. Geburtstag zum DNA-Test.

Für viele Kriminalisten ist es eine verlockende Vorstellung: Alle männlichen Bürger müssen - sagen wir mal - nach dem 18. Geburtstag zum DNA-Test. Die Daten werden lebenslänglich in einer zentralen Datei gespeichert. Ist ein Delikt zu klären, muss nur eine Spur mit DNA-Material gefunden werden. Ein kurzer Abgleich - schon ist der Fall sauber gelöst. Kriminalistische Kärrnerarbeit wäre nur noch bei minderjährigen, zugereisten oder weiblichen Tätern zu leisten. "Völliger Unsinn", findet Hubert Poche, Leiter des DNA-Labors im FU-Institut für Rechtsmedizin, "ein Phantasiegebilde". Rein technisch würde die Erhebung der DNA-Daten von Millionen deutscher Männer die Labore auf Jahre hinaus blockieren. Auch der Leiter der Rechtsmedizin in der Charité, Gunther Geserick, hält diese Idee für abwegig. "Eine sinnlose Diskussion, weil es verfassungsrechtlich nicht geht". Zudem seien die Ängste in der Bevölkerung vor dem "gläsernen Menschen" viel zu groß. Zugleich beteuern die Experten jedoch, dass diese Ängste gegenwärtig völlig unbegründet seien. Die erfassten DNA-Daten könnten gerade noch Aufschluss über eine Verwandtschaft geben, weitere Merkmale wie Augen- oder Hautfarbe, Charaktereigenschaften oder sexuelle Vorlieben ließen sich nicht ablesen. Das liegt daran, dass bei einem genetischen Fingerabdruck nur die Stellen auf der DNA untersucht werden, die keine genetischen Informationen enthalten - dazu zählt 97 Prozent der Chromosomensubstanz.

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In der zentralen DNA-Analysedatei beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden sind derzeit rund 100 000 Datensätze von verurteilten Straftätern gespeichert. Sie enthält keine Namen, sondern nur Codenummern. Nach der Strafprozessordnung dürfen DNA-Daten bei Vergehen "von erheblicher Bedeutung" auf richterliche Anordnung erhoben werden - in der Praxis hat man sich auf Delikte geeinigt, für die ein Mindeststrafmaß von einem Jahr gilt. Die seit zwei Jahren bestehende Datei wird von allen Bundesländern fleißig gefüttert, besonders von Bayern. Gegenwärtig kommen in jedem Monat rund 10 000 Daten hinzu. Bis Ende 2000 ergaben Datenabgleiche genau 1653 Treffer. In 990 Fällen konnte eine Spur einer Person zugeordnet und damit ein Fall praktisch aufgeklärt werden. Von diesen 1653 Treffern fielen allerdings 1462 in den Bereich Diebstahl. Nur 101 Treffer bezogen sich auf Sexualstraftaten - zur Aufklärung dieser Fälle wurde die Datei ursprünglich angelegt.

Das gegenwärtige Verfahren sei "gut und juristisch sowie ethisch vertretbar", urteilt Geserick. In der Praxis hat sich jedoch ein ethisches Problem ergeben, da DNA-Tests immer häufiger auf freiwilliger Basis, also ohne richterliche Anordnung, genommen werden. Zwar ist die im Grundgesetz verbriefte informationelle Selbstbestimmung formal erfüllt, aber bei freiwilligen Massenscreenings wie im Fall der ermordeten Christina Nytsch vor drei Jahren wird dieses Grundrecht praktisch ausgehebelt. Der Täter ließ "freiwillig" eine Speichelprobe nehmen und überführte sich so selbst. In anderen Ländern wird die Diskussion um DNA-Datenbanken vorbehaltloser geführt. In Estland und Island werden Gen-Datenbanken für medizinische Zwecke aufgebaut. In England denken Kriminalisten nach, wie mit verbesserten DNA-Analysen Persönlichkeitsprofile gewonnen werden können - also das, was man hierzulande bisher bewusst ausblendet. Doch auch in Deutschland gibt es bereits ein nahezu lückenloses Massenscreening, und zwar in der Geburtsdiagnostik. Jedes im Krankenhaus geborene Kind wird auf bestimmte Stoffwechselkrankheiten untersucht, die sich auf Gendefekte zurückführen lassen. Im Institut für Humangenetik der Charité werden die Befunde 10 Jahre lang gespeichert, es sei denn, eine Löschung wird von den Betroffenen gewünscht, wie Heidemarie Neitzel, Leiterin der Chromosomendiagnostik erklärt. Für die Forschung würden solche Daten nur anonymisiert herausgegeben. "Genetische Daten werden als sensibler empfunden als sonstige Aufzeichnungen über Krankheiten." Dass bei den Neugeborenen auch genetische Dispositionen untersucht werden, sei den Eltern kaum bewusst. Dieses Unwissen habe auch eine positive Seite, sagt Neitzel. Würde das Thema diskutiert, verweigerten vielleicht einige Eltern ihre Zustimmung zum Gentest - zum Schaden ihres Kindes.

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