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Berlin: Gerhard Erbe (Geb. 1935)

Sein Leben lang hat er entschieden, geplant und durchgeführt

Diesen Job gab es nur einmal auf der Welt: „Bevorratungsdezernent“, Hüter und Verwalter der Stadtreserve von West-Berlin, verantwortlich für Kohlen, Konserven, Schnuller, Fahrräder, Medikamente, Kinderwagen, hunderttausende Paar Schuhe, feine Erbsen, Glühbirnen und sogar Papier, damit im Ernstfall, bei einer Blockade der Halbstadt, auf Wochen auch die Produktion von Zeitungen gesichert sei. Nach der Blockade 1948 hatte man die Vorräte angelegt, zuletzt Waren im Wert von 1,6 Milliarden DM. Der größte Posten war die Steinkohle, die in großen Halden im Westhafen lag.

Wie Gerhard Erbe da einmal an Weihnachten rausmusste, weil eine Halde in Brand geraten war! Wie 1987 herauskam, dass eine Firma Millionen Dosen Erbsen, Karotten und Bohnen erst aussortiert hatte, um sie dann, mit neuem Etikett versehen, wieder einzusortieren! In weiten Teilen unsichtbar für die Bevölkerung wälzte sich der riesige Bestand für die Millionenstadt im Rhythmus der Verfallsdaten ständig um. Erneuerte sich und verfiel. Und Gerhard Erbe hielt das in Schwung: Chef von 100 Angestellten, verantwortlich für viele Millionen Prokura.

In Spandau hatte er eine 45-jährige Schneiderin mit seinem späten Erscheinen überrascht. „Ich war ein Betriebsunfall“, sagte er. Die Mutter nähte, der Vater war vielsprachiger Kommunist, der herangewachsene Sohn ruderte und wurde Studienstiftler, studierte Jura an der FU, trainierte Tischtennis, lief und wanderte durch die Berge. Heiratete, bekam zwei Töchter.

Im Jahr 1992 traf der Bevorratungsdezernent auf dem Weg zur Arbeit an der Bushaltestelle auf Carola. Sie behielt den Anblick des dynamischen Mannes mit wehendem Trenchcoat im Gedächtnis, „hier hing was herunter, da hing was herunter“. Sie trafen sich wieder – allerdings war er bereits 59. Sie war 42 und fand ihn zu alt. „Die Sache stagniert“, vertraute der einem Freund an. Dann drückte er ihr eines Tages auf dem Weg zur Arbeit eine Kassette in die Hand: „Stabat mater“, aktuell vertont. So etwas hatte sie noch nie gehört.

Nein, niemals hätten sie zu Hause bald ablaufende Reste der Senatsreserven essen müssen. Diese „tauchten periodisch im Berliner Einzelhandel auf“, schrieb der Tagesspiegel. Gerhard Erbe lernte, mit den Stadtkommandanten der Alliierten Wodka zu trinken. Dann kam das Ende der DDR und des Kalten Krieges. Bis zum Sommer 1994 hatte Erbe zu tun, die Reserven, den Inhalt seines Berufslebens, abzuwickeln. Ein Großteil war mit Hilfslieferungen in die Sowjetunion gegangen. Weil in seinem Job in den letzten Jahren weniger zu tun war, spielte der Nachtmensch oft bis spät im Büro gegen den Computer Schach. Seine Kollegen waren überzeugt, Erbe habe in seinem Büro mit offenen Augen schlafen können.

Ein streitbarer Mensch war er, vermutlich hatten ihn die politischen Diskussionen in seinem Elternhaus geprägt. Er konnte dafür aber auch einstecken, war nicht nachtragend, und er blühte auf, wenn er selbst redete. Und weil er einen so ehrlichen Kern besaß, schafften sie es irgendwie, mit der neuen Frau, ihrer großen Familie und mit der Ex-Frau und den zwei Töchtern eine Großfamilie zu werden.

Das frische Paar zog nach Karolinenhof im tiefen Südosten von Berlin. Gerhard Erbe, der seinem Namen gerade Ehre gemacht und etwas Geld zur Verfügung hatte, legte seiner neuen Frau Parkett zu Füßen und ging wieder rudern wie zuletzt in seiner Spandauer Kindheit. Er bestieg mit ihr die Berge; wie man sicherte, wusste er, denn er war im Himalaja gewesen, hatte den Montblanc bestiegen und auch hier stets den Ernstfall zu vermeiden gewusst.

Natürlich ist diesem Mann auch der Tod nicht einfach so passiert. Sein Leben lang hat er entschieden, geplant und durchgeführt.

Vor acht Jahren hatte er den Krebs besiegt, im vergangenen Jahr kam die Krankheit wieder. Im Sommer sollte er sich von den Bestrahlungen an der Ostsee erholen – und kam mit einer Lungenentzündung zurück. „Ruf mal den Arzt an“, sagte er zu seiner Frau. „Ich will sterben.“

Für diesen Ernstfall hatte er vorgesorgt. Er war 80 Jahre alt, von nun an würde sein Zustand nur schlimmer werden. Seine Frau kannte seine Entschlusskraft. Aus einem moralischen Gestrüpp von Pflicht und Schuld musste er sich gar nicht erst befreien, religiös war er nicht mehr. „Du hast doch jetzt so schöne Momente gehabt – meinst du nicht?“, fragte ihn die Frau. Nein, er meinte nicht.

Schach spielte er nicht mehr, und dass er keine Musik mehr hörte, lag vielleicht am schlechten Gehör. Fußball blieb, merkwürdigerweise Fußball. Erst nach seiner Pensionierung hatte er sich entschlossen, Hertha-Fan zu sein. Sein Sterbetag sollte ein Sonntag sein, damit er am Samstag noch Bundesliga schauen konnte. „Aber die Hörgeräte lasst ihr mir bitte drin bis zum Schluss“, sagte er. Dann nahm er den letzten Trunk.

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