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Aus den Interviews entstehen zum Teil echte Schmöker, etwa das 350 Seiten starke Werk über die Familie Müllenberg.

© Wolf Lux/Memoiren-Manufaktur/promo

Geschichte erfahrbar machen: Neuköllnerin schreibt die Biografien normaler Menschen auf

Wenn Geschichte auch das eigene Leben betrifft: Juliane Primus schreibt die Lebensgeschichten von Menschen auf – meist im Auftrag der Enkel.

Was hat Opa eigentlich im Krieg erlebt – und wer war Omas erste Liebe? Viele Menschen wüssten kaum über ihre eigene Familiengeschichte Bescheid, sagt Juliane Primus. Genau das will die 31-jährige Neuköllnerin ändern und Geschichte anhand persönlicher Bezüge erfahrbar machen.

Primus arbeitete mehrere Jahre als Kulturjournalistin, traf unter anderem prominente Künstler zu Interviews. „Da saß ich dann Wim Wenders im Interview gegenüber und hatte mich ausführlich auf einen kurzen Gesprächstermin vorbereitet“, sagt Juliane Primus. Sie habe sich viele Gedanken gemacht, welche Fragen sie ihm stellen könnte, die er in anderen Interviews noch nicht beantwortet hatte.

Das habe sie nachdenklich gemacht, sagt Primus: „Warum weiß ich mehr über das Leben von Wim Wenders als über das meiner eigenen Oma?“, fragte sie sich. Und: „Warum werden eigentlich immer die gleichen Menschen nach ihrer Lebensgeschichte befragt und andere nie?“

„Die eigene Familiengeschichte kann man meistens nicht googeln“

Auch in ihrer Neuköllner Nachbarschaft beobachte sie vor allem viele junge Leute. „Was machen eigentlich deren Eltern und Großeltern, was haben sie erlebt und welche Rolle spielen die Geschichten für die Menschen?“, fragte sich Juliane Primus.

Also beschloss sie, sich mehr auf jene Geschichten zu konzentrieren, die kaum erzählt werden. „Die eigene Familiengeschichte kann man meistens nicht googeln“, sagt sie.

Juliane Primus hat Literatur und Zeitgeschichte studiert und daher schon immer einen großen Bezug zu Biografien. Vor drei Jahren gründete sie die „Memoiren-Manufaktur“. Seither schreibt sie die Lebensgeschichten von Privatpersonen als Buch auf. Ihre erste Testkundin sei dann auch ihre eigene Großmutter gewesen, sagt Juliane Primus.

Der Entstehungsprozess dauert etwa ein Jahr

Mit ihren Kunden trifft sie sich mindestens fünf Mal zu längeren Interviews. Idealerweise dauere der Entstehungsprozess eines Buches etwa ein Jahr, sagt Primus. Das liege auch daran, dass viele ihre eigene Geschichte noch einmal nachrecherchierten: Wie war das eigentlich damals? Das führe auch manchmal alte Freunde wieder zusammen, weil sich die Menschen etwa nach vielen Jahren wieder zum Kaffee verabreden, um über alte Zeiten zu sprechen.

Mit ihren Gesprächspartnern trifft Juliane Primus sich oft zu Hause im eigenen Wohnzimmer, wo diese sich am wohlsten fühlen und auch das Fotoalbum schnell zur Hand ist.

Eine Kundin begleitete sie auf eine Kreuzfahrt und stellte die Frage in der Kabine mit Blick auf das Mittelmeer. „Ich brauche für jedes Gespräch andere Fragen, weil auch die Menschen und ihre Erlebnisse alle anders sind“, sagt Juliane Primus. Für viele alte Menschen sei der Blick in die Vergangenheit auch anstrengend – denn neben vielen schönen Erinnerungen gibt es in jedem Leben auch dunkle Momente, die die Menschen oft seit Jahren oder gar Jahrzehnten verdrängen.

[330.000 Leute, 1 Newsletter: Die Autorin dieses Textes, Madlen Haarbach, schreibt den Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Neukölln. Den gibt es hier: leute.tagesspiegel.de]

Manchmal begleitet sie Menschen auch an die Orte ihrer Erinnerung. Mit der 89-jährigen Gerda John, die mittlerweile in Franken lebt, lief sie durch die Straßen ihrer Kindheit in Kreuzberg. „Wir standen an der Stelle, an der einst ihr Haus stand, das im Krieg weggebombt wurde“, sagt Juliane Primus.

Plötzlich seien Johns Erinnerungen an den Einmarsch der Russischen Armee wieder lebendig geworden. Gerda John habe auch von den Nachbarn aus dem Haus gegenüber erzählt, die von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden waren und von denen sie nie wieder etwas gehört hatte. „Und da entdeckte sie zwei Stolpersteine auf der anderen Straßenseite mit den Namen dieser Nachbarn – und konnte ihrer Kindheitserinnerung Jahrzehnte später einen traurigen Kontext geben“, sagt Juliane Primus.

Mit einigen Kunden kehrt Juliane Primus (links) an die Orte ihrer Kindheit zurück, etwa mit der 89-jährigen Gerda John nach Kreuzberg.

© Wolf Lux/Memoiren-Manufaktur/promo

Mittlerweile sind neun Bücher entstanden. Die Memoiren erscheinen in Kleinstauflage, nur für Familie und Freunde. Beauftragt würde sie meist von Enkeln und Kindern, die nicht wollen, dass die Geschichte ihrer Großeltern verblasst, sagt Primus. Dabei hilft ihr auch, dass sie als Außenstehende unvoreingenommen an die Geschichten herangeht.

„In jeder Familie gibt es Fettnäpfchen und Themen, über die niemand spricht“, sagt sie. Sie hingegen könne sich trauen, alles zu fragen. Gedruckt wird allerdings nur das, was die Kunden auch in dem Buch lesen wollen. „Die Familie soll ja danach auch noch miteinander reden.“

[Weitere Informationen gibt es unter www.memoiren-manufaktur.de]

Oft müssten die Enkel ihren Großeltern auch erst erklären, was an ihrer eigenen Geschichte so interessant sei, sagt Primus. „Geschichten von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg wurden schon 1000 Mal erzählt – aber die Ereignisse werden viel interessanter, wenn sie die eigene Lebensgeschichte betreffen.“

Eines der schönsten Komplimente in Zusammenhang mit ihrer Arbeit habe ein Enkel ihr gemacht, der erklärte, dass das Buch über seine Großmutter das erste gewesen sei, das er von vorne bis hinten gelesen habe.

Je nachdem, wie viel Geld und auch Aufwand die Familien in die Bücher stecken wollen, entstehen Werke zwischen rund zehn und 350 Seiten. Gestaltet werden die Bücher individuell von einem Grafikdesigner. Die Bücher über die Familiengeschichte kosten dann einen vier- bis fünfstelligen Betrag, der sich auch an der Arbeitszeit orientiert.

Es gibt noch unzählige Geschichten zu erzählen

Die Nachfrage sei bisher gut, sagt Juliane Primus – mittlerweile gebe sie auch Aufträge an ihren Kollegen Sebastian Bauer ab. Ihr Ziel sei es, das Projekt noch deutlich wachsen zu lassen. Es gebe noch unzählige Geschichten zu erzählen, bevor es zu spät sei, sagt Juliane Primus. „Es ist wichtig, dass die Leute nachfragen, woher sie kommen, weil das auch bestimmt, wer sie heute sind.“

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