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Berlin: Gisela Gassen (Geb. 1940)

Auf die Männer zugehen und verhandeln: ein hartes Stück Arbeit

Wem verdanken wir es, dass trotz all der Hochstapler, Krisengewinnler und Plappermäuler dieses Gemeinwesen noch einigermaßen funktioniert? Gisela Gassen hätte die Frage abgelehnt, weil sie das Scheinwerferlicht zu direkt auf ihre eigene Person gelenkt hätte. Sie stand nicht gern im Mittelpunkt, aber sie war immer dort, wo sie glaubte, etwas bewegen zu können. Wenn sie Fragen stellte, waren sie immer von sehr konkreter Art. Wenn sie Antworten suchte, ließ sie sich Zeit, schnellen Pointen misstraute sie zutiefst.

Die erste Frage, die sie sich als Kind stellte, war zugleich die schwerste: Warum hat meine Mutter mich weggegeben? Die Antwort, die sie erst als Erwachsene fand, zeugte von großer Selbstlosigkeit. Sie hat die Entscheidung ihrer Mutter als Akt der Emanzipation verteidigt – und sie dennoch zeitlebens als Verrat empfunden. Denn die Stiefmutter, zu der sie kam, peinigte sie, wo immer sie konnte. Darüber verlor Gisela Gassen in ihrer Autobiografie kein Wort. Aber dass Frauen anderen Frauen schaden wollen, im Privaten wie im Berufsleben, war eine Erfahrung, die sie immer wieder verstörte.

Die zweite Frage: Mit wem will ich leben? Den Traum vom Märchenprinzen hatte sie früh aufgegeben. Sie hatte jung geheiratet, aber das Leben an Peters Seite war absehbar bis zur Pensionsgrenze. Sie wollte eine neue Liebe und ein neues Leben. Sie verließ Peter und ging zu Rico. Rico, der für die politische Freiheit in Südamerika kämpfte, aber der sich wunderte, wenn Gisela nicht nur als kleinlaute Sekretärin ihres Freiheitskämpfers fungieren wollte. Sie trennte sich von Rico, suchte ihr Glück viele Jahre in Freundschaften, aber Herzlichkeit ohne Leidenschaft genügte ihr nicht. Mit 40 suchte und fand sie noch einmal eine Liebe, zum Entsetzen ihres Umfeldes. Die Freundinnen forderten Rechenschaft von ihr, wie eine „frauenbewegte Frau nicht nur mit einem Mann, sondern vor allem sogar mit einem Türken zusammenleben konnte“. Es war ihr lästig, die Vorurteile im Gespräch aus der Welt zu räumen. Sie schwieg. Bevormundung hatte sie lange genug ertragen.

Die dritte Frage: Wer hat mir eigentlich etwas vorzuschreiben? Niemand. Ihre Freundinnen nicht und Männer schon gar nicht. „Als junge Frau hatte ich mich von Vorgesetzten herumkommandieren lassen und hatte Aufgaben übernommen, die ich eigentlich nicht ausführen wollte.“ Damit sollte Schluss sein. Durch Rico war sie zum Journalismus gekommen, aber es stellte sich schnell heraus, dass die Arbeitsbedingungen für Frauen in den Medien auch nicht besser waren als in der freien Wirtschaft. Das wollte sie ändern, im offenen Gespräch. „Es genügt nicht, den Männer wegzulaufen …“ – man muss auf sie zugehen und verhandeln. Das ist ein hartes Stück Arbeit. Zumal es so schwerfällt, die Frauen auf ein gemeinsames Vorgehen einzuschwören.

Sie wurde Geschäftsführerin des „LandesFrauenRates“, betreute die Verbandspublikation „Wir Berlinerinnen“, gab Bücher heraus, organisierte Veranstaltungen zu vielen Themen. „Die Armut ist weiblich“, das gilt im Arbeitsleben, das gilt auch in der Kunst. Die Kunstwerke von Frauen werden kaum gekauft, schlechter archiviert, seltener ausgestellt. Auch dagegen erhob sie ihre Stimme. Sie kämpfte an vielen Fronten, nicht selten auf verlorenem Posten. Frauen sind untereinander keineswegs so solidarisch, wie es nötig wäre, um gegen die Phalanx der Männer zu bestehen. Ostfrauen gegen Westfrauen, Mütter gegen Berufstätige, radikale Feministinnen gegen gemäßigte, die Gräben waren tief, die Diskussionen endlos. Zuweilen glaubte sie nicht mehr daran, noch etwas bewegen zu können. Lippenbekenntnisse in Sachen Emanzipation gibt es viele von allen Seiten, aber verbindliche Zusagen selten. Zudem blieb der kämpferische Nachwuchs aus. Verbandsarbeit ermüdet, Buchhaltung, Tagesgeschäft, das klingt alles total unkreativ. Aber wenn das niemand tut, wer konkretisiert dann die Utopie? Als die Zahlen sie zu verwirren begannen, zog sie sich ganz in sich zurück. Ihre Arbeit war getan, ihre persönliche Bilanzprüfung hatte sie mit ihrer Autobiografie bereits abgeschlossen: „Morgen beginne ich ein neues Leben“. Gregor Eisenhauer

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