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Großrazzia bei Berliner Ärzten: Das Rote Kreuz unter Betrugsverdacht

Die Berliner Polizei hat am Donnerstag erneut Kliniken und Arztpraxen durchsucht. Worum geht es dabei?

Eine derart große Polizeiaktion zu Betrügereien im Gesundheitswesen hat es noch nicht gegeben. Die 300 Polizisten, die am Donnerstagmorgen 152 Büros und Wohnungen in Berlin durchsuchten, waren auf der Suche nach Arbeitsverträgen und Abrechnungen, die beweisen, dass Kassenärzte nur auf dem Papier für das Deutsche Rote Kreuz (DRK) gearbeitet und die Kassenärztliche Vereinigung um Millionenbeträge gebracht haben. Systematisch soll zur „Gewinnoptimierung manipuliert“ worden sein, sagen die Ermittler. Festnahmen gab es am Donnerstag keine.

Was wird den Ärzten vorgeworfen?

Der Hauptvorwurf ist, dass das DRK getrickst hat, um an begehrte kassenärztliche Zulassungen zu gelangen. Kassenärzte, die in den Ruhestand gehen wollen, verkaufen oft ihre Praxis und die damit verbundene Zulassung an junge Ärzte. Das DRK soll gezielt Kassenärzte angesprochen und für seine Medizinischen Versorgungszentren abgeworben haben. Die Ärzte waren aber laut den Ermittlungen nur zum Schein angestellt, teilweise mit zehn Arbeitsstunden pro Woche. Über die Zulassung der Ärzte wurden fälschlicherweise Leistungen anderer Ärzte abgerechnet. Die Kassenärzte erhielten dafür überdurchschnittlich hohe Gehälter. Die Patienten wurden hingegen von Ärzten behandelt, die dafür nicht qualifiziert und zugelassen waren. Zudem sollen zu hohe Rechnungen erstellt worden sein.

„Wir gehen von einer Schadenssumme im zweistelligen Millionenbereich aus“, sagte Volker Klemstein vom Landeskriminalamt (LKA). „Alle ärztlichen Disziplinen der ambulanten Behandlung“ seien betroffen. Neben dem Schaden für die kassenärztliche Vereinigung gebe es auch mehrere Verdachtsfälle von gefährlicher Körperverletzung, bei denen nicht zugelassene Ärzte Patienten behandelt haben. Die Vorwürfe würden jetzt geprüft.

Wie sind die Ermittler vorgegangen?

Es war nicht die erste Razzia. Bereits im September 2009 und im Juni 2010 durchsuchten die Beamten wegen falscher Abrechnungen Einrichtungen des Berliner DRK. Der Verdacht auf gewerbs- und bandenmäßigen Betrug im großen Stil erhärtete sich im Juni. Bei einer zweiten Durchsuchung in drei Kliniken wurden die Radiologie-Abteilungen überprüft. Ein Informant hatte den Ermittlern detaillierte Hinweise gegeben. Hier sollen nicht nur Leistungen von Assistenzärzten als Leistungen der teureren Fachmediziner abgerechnet, sondern auch medizinisch nicht erforderliche Doppeluntersuchungen vorgenommen worden sein. Waren die Behörden bis dahin von Einzelfällen ausgegangen, deuteten die beschlagnahmten Akten dann auf organisierten Abrechnungsbetrug seit 2005 hin. Die Ermittler verhafteten die beiden damaligen Geschäftsführer und den Chefarzt der Radiologie. Da keine Fluchtgefahr besteht, kamen alle drei wieder auf freien Fuß. Sie gelten weiterhin als Haupttatverdächtige. Die Auswertung der beschlagnahmten Akten führte nun zu der neuerlichen Razzia.

Schnell wurde klar, dass das sechsköpfige Kommissariat „Medicus“, das sich mit Wirtschaftsbetrug im Gesundheitswesen befasst, für die umfangreichen Ermittlungen nicht ausreichen würde. Das LKA richtet eine zehnköpfige Ermittlungsgruppe mit dem Namen „Reputatio“ ein. Die werteten unter anderem den internen E-Mail-Verkehr des DRK aus und bereiteten die Großrazzia monatelang vor.

Der unvorsichtige Umgang mit rechtswidrigen Nebenverträgen und anderen Unterlagen beim DRK hat die Fahnder überrascht. Vieles wurde in schriftlicher Form festgehalten. Bis zu einer Anklage kann es aber dauern. Es sei ein langwieriges Verfahren, heißt es. Das LKA geht jedoch davon aus, dass nicht in jedem einzelnen Fall der Betrug bewiesen werden muss, wenn schon die kassenärztliche Zulassung als Grundlage der Abrechnung unrechtmäßig erworben wurde.

Wie reagiert das DRK?

Der Verband der DRK-Schwesternschaften zeigte sich „entsetzt und überrascht“. „Wir möchten, dass die Vorwürfe schnell abschließend geklärt werden“, heißt es in einer Erklärung. Die durchsuchten Kliniken gehören der DRK-Schwesternschaft Berlin. Die Berliner DRK-Kliniken hätten seit der Razzia im Juni „konsequent an der Abstellung der Mängel gearbeitet“.

Wie funktioniert das Abrechnungssystem?

Grob vereinfacht funktioniert eine Abrechnung zwischen Krankenkasse und Krankenhaus wie folgt: Das Krankenhaus bekommt für jeden Patienten eine Fallpauschale. Diese Pauschale gibt es beispielsweise standardmäßig für die Diagnose Beinbruch, sie wird dann aber beim jeweiligen Patienten unter anderem nach Schwere, Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen differenziert. Die Abrechnung ist damit komplex und fehleranfällig. Für die Überprüfung sind die Krankenkassen zuständig, sie prüfen etwa zehn bis zwölf Prozent. 40 Prozent dieser Abrechnungen seien falsch, heißt es beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Diese Fehler – absichtlich oder unabsichtlich – verursachen bei den Kassen pro Jahr einen Schaden von mehr als einer Milliarde Euro.

Die Überprüfung birgt für die Kassen auch finanzielle Risiken. Stellt sich heraus, dass das Krankenhaus korrekt abgerechnet hat, muss die Krankenkasse pro Rechnung eine Aufwandsentschädigung von 300 Euro zahlen. Wird ein Fehler nachgewiesen, muss das Krankenhaus nur den Fehlbetrag überweisen. Ein Bußgeld fällt nicht an. Während die Kassen also vor jeder Prüfung überlegen müssen, ob diese sich lohnt, haben die Krankenhäuser von einer falschen Abrechnung – solange der Fall nicht strafrechtlich relevant ist – keinen Nachteil. Das müsse sich ändern, fordert die GKV. Die Zahlung der Krankenhäuser an die Kassen müssten mindestens so hoch sein wie die der Kassen an die Krankenhäuser.

Welches Problem gibt es mit den Assistenzärzten ?

Assistenzärzte sind Mediziner mit abgeschlossenem Studium und Berufszulassung, die sich zum Facharzt weiterbilden möchten. In der Hackordnung im Krankenhaus stehen Assistenzärzte am unteren Ende. Immer wieder beklagen Standesvertreter die Ausbeutung der Assistenzärzte, deren lange Schichten und schlechte Bezahlung. Aber die vorgesetzten Ärzte dürfen nicht alles auf ihre Assistenten abladen. Dies gilt zum Beispiel bei Tätigkeiten für Privatpatienten. Privat Versicherte können eine Chefarztbehandlung wählen, für die sie Extra-Tarife bezahlen müssen. Der Chefarzt könne aber nur die Leistungen privatärztlich abrechnen, die er auch eigenhändig erbracht habe, heißt es in einschlägigen Urteilen. Nur wenn der Chefarzt unvorhersehbar verhindert sei, könne er diese Leistungen delegieren, allerdings nur an einen Stellvertreter, meist also einen Oberarzt.

Auch bei Behandlungen von Kassenpatienten gibt es Einschränkungen. Chefärzte sind oft ermächtigt, gesetzlich Versicherte ambulant zu behandeln und die Leistungen gegenüber den Kassenärztlichen Vereinigungen abzurechnen. Obwohl es in der Ärztezulassungsverordnung ausdrücklich heißt, dass diese ambulanten Behandlungen von dem ermächtigten Arzt persönlich zu erbringen sind, werden dabei immer wieder Leistungen, die andere Ärzte erbracht haben, abgegeben. Denn innerhalb eines Jahres kann sich der ermächtigte Arzt bis zu drei Monate vertreten lassen. Außerdem meinen manche Experten, dass der Mediziner durchaus ärztliche „Nebenaufgaben“ wie Infusionen oder Bluttransfusionen ständig auf Assistenzärzte übertragen könne.

Wenn statt Chefärzten Assistenzärzte behandeln, macht das bei den Pauschalen der GKV keinen Unterschied. Bei den privaten Krankenkassen hingegen gibt es oftmals Aufschläge, wenn der Chefarzt operiert. Hier könnten finanzielle Vorteile durch Falschabrechnungen entstehen.

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