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Berlin: Guido Katzky (Geb. 1933)

Ich habe nie eine Tanzschule besucht. Alles ist von allein gekommen

Das Leben eines Tanguero, von ihm selbst erzählt: Ich wuchs mit meinem Bruder Henri und den Eltern in Berlin, Prenzlauer Berg auf. Mein Vater besaß mit meinem Onkel eine kleine Werkstatt, in der sie Knöpfe herstellten und färbten. Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass an einem Tag im Jahr 1938 um fünf Uhr morgens mein Vater von einem Revierpolizisten abgeholt und nach Buchenwald deportiert wurde.

Meine Mutter erreichte, dass mein Vater aus dem KZ zurück nach Hause entlassen wurde – allerdings mit der Auflage, dass er Deutschland sofort zu verlassen habe. Zu dieser Zeit gab es nur noch zwei Möglichkeiten, als Jude aus Deutschland zu emigrieren: Bolivien oder China. Der Vater ging im Jahr 1938 nach Bolivien.

Vor die Wahl gestellt, sich scheiden zu lassen oder auch das Land zu verlassen, wählte meine Mutter die Emigration. Wir waren fünf Tagesfahrten vom Panamakanal entfernt, als unser Schiff nach Deutschland zurückfahren musste. Der Weltkrieg war ausgebrochen.

Der zweite Versuch nach Bolivien auszureisen erfolgte im Jahr 1940 von Genua aus. Das Geld hierfür hatte die Mutter von Quäkern erhalten. Das erste Schiff, die „Oracia“, verpassten wir. Zum Glück, da die „Oracia“ verbrannte und mit ihr die meisten Passagiere. Wir verließen Genua mit der „Virgilio“ und erreichten ohne Zwischenfälle Chile.

Weiter ging es nach vielen Tagen auf See mit der Eisenbahn nach Bolivien. Der Kontakt zwischen meinem Vater und uns war abgebrochen, denn er glaubte offenbar nicht mehr daran, dass wir ihm folgen könnten. Er hatte dort auch schon eine andere Frau kennengelernt. Aber nachdem wir angekommen waren, trennte er sich von ihr.

In Bolivien lebten wir in La Paz und in Cochabamba. Wegen der sehr schwierigen wirtschaftlichen Situation meiner Eltern wurde ich zwei Jahre in einem Kinderheim untergebracht. Später wohnten wir zusammen in einer Turmwohnung. Wir führten ein eigenartiges Familienleben. Unsere Eltern legten abends, bevor sie zur Arbeit gingen, das Fahrgeld für den Schulweg auf den Tisch. Am Morgen nahmen wir es und verließen das Haus, während die Eltern noch schliefen. Ich erinnere mich auch an keinen Sonntag, an dem wir gemeinsam an einem Tisch zu Mittag gegessen hätten. Rückblickend habe ich das Gefühl, ohne Eltern aufgewachsen zu sein.

Es muss kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen sein, als sich unser Leben in Bolivien völlig veränderte. Mein Vater und sein Freund Blaustein eröffneten ein Spielcasino – und ein Bordell. Es kamen wichtige Leute, Minister und Politiker, und die Prostituierten gingen bei uns ein und aus. All dies schien mir alltäglich und normal. Und auch ich machte, zwölf Jahre jung, dort meine ersten Erfahrungen mit Frauen: Zum Beispiel mit dem viel älteren Kindermädchen. Mit einem Mädchen, das wie ich 13 war, hatte ich Sex im Keller unseres Hauses.

Es war eine Zeit der Ausschweifungen. Ich erinnere mich an eine Episode, die ich mit meinem Freund Blaustein erlebte. Ich war mit ihm in einem Bordell. Es gab eine Ausgangssperre, da wieder einmal Revolution war. Mein Vater kam mit einem Auto, mit einer Pistole bewaffnet, und holte uns beide nach Hause. Und ein anderes Mal glaubten die Besitzer eines anderen Bordells, mein Freund und ich wollten die Prostituierten für das Bordell meines Vaters abwerben. So wie ich aufgewachsen bin, hätte es gut und gern auch für eine kriminelle Karriere gereicht.

Nach dem Ende des Krieges beschloss mein Vater, Bolivien zu verlassen und nach Argentinien zu gehen, weil er dort bessere, solidere Arbeitsmöglichkeiten erwartete. In Buenos Aires begann ich eine Ausbildung in einer Kürschnerwerkstatt. Zu dieser Zeit, so um das Jahr 1948, begann ich auch Tango zu tanzen.

In einer Milonga, so heißen die Tangolokale in Buenos Aires, lernte ich im Jahr 1951 auch meine erste Frau Nelly kennen. Ich erinnere mich gut an unsere erste Begegnung. Ich suchte den Blickkontakt zu ihr, um sie, so war das üblich, zum Tanzen aufzufordern. Zunächst wollte sie nicht. Aber eine Freundin von Nelly lobte wohl meinen Tanzstil. Wir tanzten und blieben von diesem Augenblick an bis zu ihrem Tod zusammen. Geheiratet haben wir aber erst kurz vor der Geburt unseres Sohnes René im Jahr 1957. Im Januar 1954 war Orlando, 1955 Monika und 1956 Marcello geboren worden. Alle meine Kinder sind katholisch getauft.

Meine Eltern hatten sich schon im Jahr 1946, noch in Bolivien, getrennt, weil Vater häufig fremdgegangen war. Er war halt ein kleiner Bandit. Und auch mit Geld konnte er nicht umgehen. Beispielsweise hatte er keine Opferrente erhalten, sondern sich das Geld bar auszahlen lassen und schnell verpulvert.

Im Jahr 1962 verstarb Nelly in Buenos Aires an Herzversagen. Meine Mutter war in dieser Zeit schon in Deutschland. Zunächst sollte es nur ein Besuch bei der Familie Blaustein sein, weil sie ihre Papiere in Ordnung bringen wollte. Dann entschloss sie sich, dort zu bleiben und arbeitete in einem Konfektionsladen der Eltern meines Freundes Blaustein. Ich kehrte mit den Kindern am 2. November 1962 nach Deutschland zurück.

Wir lebten in dieser Zeit in sehr einfachen Verhältnissen. Mutter hörte auf zu arbeiten und zog die Kinder groß, während ich arbeiten ging. Auch mir halfen die Blausteins. Mit ihrer Vermittlung fand ich eine Stelle als Kürschner und Näher im Pelz- und Konfektionshaus Wolff auf dem Kurfürstendamm. Bei der Firma Wolff blieb ich zehn oder elf Jahre. Dann entschloss ich mich, eine eigene Kürschnerei zu eröffnen. In der Xantener Straße mietete ich 1973 ein Ladenlokal an und war nun mein eigener Herr. In diesem Jahr lernte ich auch bei einem Freund meine spätere zweite Frau Bärbel kennen. Sie, damals achtzehnjährig, arbeitete in einem Friseursalon.

Rückblickend begann eine gute, ruhige Zeit. Die Kinder und Bärbel verstanden sich sehr gut, ich verdiente viel, fuhr dicke Autos und wir verreisten oft. Ab dem Jahr 1984 betrieben Bärbel und ich neben dem Kürschnergeschäft auch einen Marktstand, auf dem wir Ledertaschen verkauften. Allerdings hatte das Kürschnerhandwerk zu dieser Zeit mit großen Problemen zu kämpfen. Immer mehr junge Leute waren gegen das Tragen von Pelzen. Die Situation verschärfte sich im Laufe des Jahres 1994, so dass Bärbel begann, als Verkäuferin bei Edeka zu arbeiten. Dann ging ich pleite. Vielleicht bin ich doch ein wenig wie mein Vater!

Zwei Jahre später trennte sich Bärbel von mir. Das war für mich ein Weltuntergang. Schließlich war ich inzwischen 62 Jahre alt, und ich fragte mich, was ich nun mit diesem Leben noch anfangen sollte. Eine alte Frau als Partnerin suchen? Für mich schien das Leben gelaufen zu sein. Mir wurde deutlich, dass ich allein mit der Trennung nicht klarkommen konnte. Ich erfuhr von einer Selbsthilfegruppe. In ihr trafen sich Menschen, die von ihren Partnern verlassen worden waren. Ich war in der Gruppe als „Macho-Typ“ ein Außenseiter. Es stimmt ja auch, dass ich mit meinen Meinungen häufig allein stand. Ich bemerkte beispielsweise, dass die anderen nur so lange leiden würden, bis sie einen neuen Partner kennenlernten. Dies wurde von den anderen Mitgliedern der Gruppe vehement bestritten.

Eines Tages, Ende 1996, berichtete eine der Frauen aus der Gruppe, dass an der Uni ein Tango-Workshop angeboten würde, und sie fragte, ob ich, als „Argentinier“, keine Lust hätte daran teilzunehmen. Das war der Beginn meiner zweiten „Tango-Karriere“. Der Leiter des Kurses beobachtete mich beim Tanzen. Und obwohl ich keinen Schritt mehr richtig beherrschte, erkannte er, dass ich schon einmal Tango getanzt haben musste.

Ich habe nie eine Tanzschule besucht. Alles, was ich kann, ist von allein gekommen oder ich habe es bei anderen gesehen. Ich tanze so wie die Menschen in Argentinien. Die Leute hier wollen immer neue Schritte lernen. Es kommt aber nicht darauf an, viele Schritte zu lernen, sondern die Schritte gut und sicher zu beherrschen.

Durch meine Arbeit als Tangolehrer bin ich in den letzten Jahren mit vielen anderen Menschen zusammengekommen, Frauen und Männern aus akademischen Berufen, Intellektuelle. Das war eine gute Erfahrung, dass man sich mit diesen Menschen auch ganz normal unterhalten kann. Sie gaben mir viel, und ich glaube, dass auch ich ihnen etwas zurückgegeben habe. Denn Tango wird nicht getanzt. Tango wird gelebt. Ich habe gelebt, und ich habe getanzt. Hans-Henner Becker / Gregor Eisenhauer

Gregor Eisenhauer

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