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Berlin: Günter Treusein (Geb. 1927)

Und was ein Sattler ist, der hat auch ein Pferd.

Es fing mit drei Ferkeln an. Günter und seine Frau Annemarie hatten sie kurz nach dem Krieg gekauft. Damals war alles knapp, auch der Wohnraum. Deshalb bauten sich die Treuseins ihre Unterkunft selbst: eine Hütte auf gepachtetem Feld, errichtet aus 5000 Ziegelsteinen, ein paar Eternitplatten und etwas Dachpappe. Die Ferkel, kuschelig auf Stroh gebettet, bekamen einen kleinen Stall. Wie aus den dreien schließlich hundert wurden, wusste Günter am Ende selbst nicht mehr genau. Den ganzen Tag stand der gelernte Sattler und Polsterer mit Gummistiefeln, Hosenträgern und hochgekrempelten Hemdsärmeln und schuftete, bis aus dem Hobbyhof ein Neuköllner Schweinemast-Betrieb von Format wurde. Hühner gab es auch, und Enten und Ziegen, eine Katze natürlich und einen Hund. Und was ein Sattler ist, der hat auch ein Pferd. Auf der Rennbahn wurde der Hengst noch „Lenzbote“ gerufen, aber Günter fand „Bubi“ passender.

Günter war einer, der nicht lange fackelte. Annemarie zum Beispiel war ihm schon als Lehrling aufgefallen, wie sie fesch auf der anderen Straßenseite im Laden stand und Haare schnitt. Flugs ging es zum Tanzen in die „Stadionterrassen“ am Tempelhofer Feld, und für Günter war die Sache geritzt. Annemarie brauchte allerdings noch ein paar Tänze und Fahrten mit dem Paddelboot, bis sie dem Charme des gut aussehenden jungen Mannes traute. In Jahresschritten waren die beiden verliebt, verlobt und verheiratet.

Tochter Elke war schon ein Backfisch und Sohn Frank ging auf die zehn zu, als ein Schlachterwagen aus Spandau einen Eber abholen sollte – und die Maul- und Klauenseuche in die Ställe brachte. Der Eber, dem schon schwante, was ihn in Spandau erwartete, stellte sich quer – und fand seinen Tod noch in Neukölln. Viele Schweine erkrankten und mussten abgeholt werden. Sie kamen zu einem geringeren Preis auf die Freibank und wurden zu gekochtem Fleisch verarbeitet. Da ein Unglück selten alleine kommt, sollten Günter und seine Familie nun auch noch von dem gepachteten Land runter. Günter und Annemarie rissen alles, was sie in den 14 Jahren aufgebaut hatten, mit eigenen Händen wieder ab, säuberten und sortierten Steine, Balken und Platten und verkauften sie wieder. Auch den schönen einspännigen Wagen, mit dem sie „Kartoffelschalen-für-Brennholz-Fahrten“ und Familienausflüge unternommen hatten, mussten sie veräußern.

Nun gab es keinen Platz mehr für Hund, Katze und Pferd, und Günter kam sich in der Mietwohnung wie eingesperrt vor. Aber es half ja nichts. Im Betrieb seines Vaters in der Grenzallee fand er Arbeit, aber die Geschäfte liefen nicht gut. Als der Vater nach den Worten „Ich leg mich hin, mir geht’s nicht so gut“ plötzlich starb, führten Mutter und Sohn das Lederwarengeschäft noch eine Weile allein weiter. 1972 gaben sie es auf. Nun arbeitet Günter für die Seilerei Lose und später noch für eine Kabelfirma.

Allmählich machte sich jedoch seine Parkinsonerkrankung bemerkbar, an der sein jüngerer Bruder schon mit 58 starb: Gelenk- und Muskelschmerzen, Haltungsschwierigkeiten, Zittern. Freude fand Günter noch in dem Garten an der Johannisthaler Chaussee. Im Sommer wohnten sie dort in einem kleinen Häuschen. Im Winter fuhren sie oft nach Spanien, da der angeschlagene Günter unter der Kälte litt.

2003 sind die Treuseins das letzte Mal in Spanien. Günter geht es nicht gut. Bei einer Untersuchung wird Krebs diagnostiziert. Günter verliert 20 Pfund. Auf die Frage, wer ihn zu Hause so gut versorge, antwortete er: „Das macht alles meine Frau.“ Die zierliche Annemarie hilft ihm beim Waschen, setzt ihn in den Rollstuhl, hievt ihn ins Bett, nimmt ihn mit zum Einkaufen. Zum Schluss füttert sie ihn auch und achtet darauf, dass er in seiner beginnenden Demenz keine Dummheiten macht. Seine letzte Fahrt macht Günter mit der Feuerwehr. Annemarie schaut mit ihrem Enkel Till zu, wie Günter in einem Tragetuch aus dem Haus zum Krankenwagen getragen wird. Anselm Neft

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