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In Bewegung bleiben. Fahrrad fahren, Treppen steigen, Atemübungen – Helga Bona bringt im Geriatriezentrum Berlin zuweilen ein straffes Programm hinter sich.

© Thilo Rückeis

Gesundheit und Alter: Herausforderung Alltag

Ältere Patienten lernen im Evangelischen Geriatriezentrum Berlin trotz chronischer Krankheiten ihr Leben zu meistern. Ein Besuch.

Ihr Lachen hat Helga Bona nicht verloren, auch wenn das Thema ein ernstes ist. „Ich lasse mich doch nicht unterkriegen“, sagt sie, während sie fleißig in die Pedale tritt. „Heute geht es mir schon viel besser.“ Heute – das ist zwei Wochen nachdem sie „mit den Nerven völlig am Ende“ war, wie Helga Bona selbst sagt. Seitdem ist die 86-Jährige im Evangelischen Geriatriezentrum Berlin. Die Patienten, die hier behandelt werden, leiden typischerweise unter mehreren chronischen Krankheiten, Ärzte nennen das Multimorbidität. „Die stationäre geriatrische Behandlung wird jedoch in der Regel notwendig aufgrund einer akutmedizinischen Problematik, etwa eines Knochenbruchs, eines Herzinfarkts oder eines Schlaganfalls“, sagt die Ärztliche Leiterin und Medizinische Geschäftsführerin des Evangelischen Geriatriezentrums, Ursula Müller-Werdan.

Im Fall von Helga Bona war diese akutmedizinische Problematik ein sogenannter Tremor, immer wieder begannen ihre Arme stark zu zittern. Der Tremor führte Helga Bona zuerst zu einem Neurologen. Doch dann warf ein Schicksalsschlag die ältere Dame völlig aus der Bahn. Ihre Zitter-Anfälle häuften sich, wurden intensiver. Weil Helga Bona in dieser Zeit zunehmend die Orientierung verlor, in ihrer Verwirrung paranoide Züge aufwies und außerdem in den vergangenen Jahren erheblich an Mobilität eingebüßt hat, ist sie heute eine geriatrische Patientin.

Bestimmte Beschwerden, über die jeder geriatrische Patient klagt, gibt es nicht – die Patienten begeben sich aufgrund von sehr unterschiedlichen Diagnosen in die Weddinger Klinik. Doch mit zunehmendem Alter entwickeln sich viele alltägliche Aufgaben zur Herausforderung. Auch solche, die man als jüngerer Mensch noch wie selbstverständlich erledigt. Angesichts natürlicher Organalterungsprozesse verliert der Körper schlichtweg an Leistungsfähigkeit. Entsprechend setzen ihm auch akute Erkrankungen viel mehr zu. Die Muskeln werden weniger, der Gang entsprechend instabiler. Die beeinträchtigte Beweglichkeit geht oft mit häufigeren Stürzen und Knochenbrüchen einher. Außerdem lässt die Abwehrkraft des Immunsystems nach, ältere Menschen sind folglich anfälliger für Infekte. Und diese können ihnen unter Umständen sogar richtig gefährlich werden. Manche Leiden werden sogar chronisch. Wer deshalb dauerhaft Medikamente einnimmt, muss zudem mit ungewollten Neben- und Wechselwirkungen rechnen. All diese Erscheinungen fallen in die Kategorie der geriatrischen Syndrome und kennzeichnen geriatrische Patienten.

Um zu ermitteln, ob ein älterer Patient tatsächlich altersheilkundlich behandelt werden muss, unterziehen ihn die Ärzte vor Beginn einer Therapie dem sogenannten Geriatrischen Assessment. Dazu gehören Tests, mit denen die Ärzte Mobilität, Alltagskompetenz, Gedächtnis, psychische Verfasstheit sowie das soziale Umfeld der Menschen systematisch erfassen. „Diese Tests waren ein Durchbruch in der Vereinheitlichung der Behandlung“, sagt Müller-Werdan. Ihre Ergebnisse seien wichtig, weil sie Aufschluss über die allgemeine Verfassung der Patienten und deren Defizite geben. „Man sollte sie jedoch nicht überinterpretieren, denn die Assessments sind nur ein Baustein der Diagnostik.“ Sie ersetzen also keine spezifischen diagnostischen Maßnahmen. Nichtsdestotrotz: Für die Planung der Therapie sind sie ein wichtiger Baustein. Denn auf Basis der Testergebnisse erstellt das Behandler-Team den Therapieplan, angepasst an die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten.

In der Woche absolviert Helga Bona drei physiotherapeutische plus zwei ergotherapeutische Einheiten

Geriaterinnen wie Ursula Müller-Werdan können auf ein großes Team aus Experten verschiedener Fachrichtungen bauen. Die Arbeit von Pflegekräften, Sozialarbeitern, Ernährungsberatern, Neuropsychologen, Logopäden sowie Physio- und Ergotherapeuten zu koordinieren, zählt zu ihren wichtigsten Aufgaben.

Der Behandlungsplan von Helga Bona sieht für den heutigen Nachmittag Ergotherapie vor. Dort übt sie die wichtigsten alltäglichen Bewegungsabläufe. Aufstehen aus dem Bett, Zähne putzen und vor allem Treppen steigen. Das ist zwar unter all den Übungen eindeutig die anstrengendste, findet Helga Bona. Doch sie kommt nicht drumherum. Schließlich wird sie nach ihrer Entlassung wieder jede Menge Stufen nehmen müssen. Ihre Wohnung im Norden Berlins liegt im dritten Stock eines Wohnhauses ohne Fahrstuhl.

Deutlich angenehmer ist da schon das Kiesbad. In einer großen Schüssel tastet Helga Bona nach den bunten Glasmurmeln, die Physiotherapeutin Andrea Kreyler (Name geändert) zwischen den erwärmten Steinchen in dem Gefäß verstreut hat. Die Wärme der Steine wirkt wohltuend auf die Hände und regt auf angenehme Art und Weise deren Durchblutung an. Zugleich enthält die Schüssel „ganz viel Spürinformation“, wie Kreyler sagt. Das wiederum fördert Sensibilität und Feinmotorik in den Händen.

In der Woche absolviert Helga Bona drei physiotherapeutische plus zwei ergotherapeutische Einheiten. Zusätzlich macht sie mit anderen Patienten eine Entspannungstherapie, unter Anleitung eines Neuropsychologen. Dabei geht es vor allem um die richtige Atmung, um Stress zu vermeiden und in anstrengenden Situationen nicht so schnell aus der Puste zu geraten. Ein bisschen wie beim Yoga also. Wenn sich Helga Bona gut fühlt, kann es auch schon mal vorkommen, dass man sie morgens nach dem Frühstück noch ein paar Extra-Meter auf dem Fahrrad-Ergometer machen sieht. Um ihre Schluckbeschwerden in den Griff zu bekommen, arbeitet die 86-Jährige außerdem mit einer Logopädin zusammen.

Dafür, alles das parallel zu ermöglichen, braucht es einen umfassenden Ansatz. Den liefert die Geriatrie mit der Bündelung einer Vielzahl von Kompetenzen. „Im Alter werden die Leute ungleicher“, sagt Ursula Müller-Werdan. „Der eine hat etwas am Herzen, der andere etwas an der Lunge und wieder ein anderer hat Probleme mit Herz und Lunge gleichzeitig. Man kann die Leute nicht mehr über einen Kamm scheren.“ Gerade deshalb ist eine enge Abstimmung der behandelnden Disziplinen vonnöten. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: „Ältere Menschen sind oft in sich gekehrt und das nimmt man dann als normal wahr. Deswegen möchten wir für jeden Patienten auch einen neuropsychologischen Befund haben“, sagt Geriaterin Ursula Müller-Werdan. „Es geht auch darum, auf die Dinge zu achten, die der Patient eben nicht berichtet.“

Trotz dieser besonderen Erfordernisse fand die Altersheilkunde in Deutschland erst spät ihren Weg in die Approbationsordnung. „Bis 2003 war die Geriatrie in der Ausbildung der Medizinstudenten in Deutschland gar kein großes Thema“, sagt Müller-Werdan. Über viele Jahre sei ihr Fach darum eher stiefmütterlich behandelt worden. Doch das habe sich mittlerweile grundlegend verändert. Für eine Vielzahl der Studenten von heute habe die Geriatrie „einen ganz hohen Stellenwert.“

Ihre Sehnsucht nach zu Hause und Eigenständigkeit treibt sie an

Fahrrad fahren, Treppen steigen, Atemübungen – Helga Bona bringt im Krankenhaus zuweilen ein straffes Programm hinter sich. Dass bei all ihrem Fleiß auch die nötige Entspannung nicht zu kurz kommt, dafür ist in der Klinik gesorgt. Vor und nach den Therapiesitzungen bleibt genug Zeit, um einfach mal durchzuatmen. Gern tut Helga Bona das auf der weitläufigen Terrasse. Dort genießt sie den Ausblick aufs Grün und die Ruhe, eine Idylle, wie man sie mitten im lauten und aufgewühlten Berlin kaum vermutet.

Kiesbad. In einer Schüssel tastet Helga Bona nach bunten Glasmurmeln.

© Thilo Rückeis

Zurück im Klinikalltag, ist Helga Bona dazu angehalten, möglichst vieles selbstständig zu erledigen und damit ganz aktiv an ihrer Genesung mitzuwirken. Was ihr sichtlich liegt. Aktivierende therapeutische Pflege nennt sich dieses Konzept. Die Patienten erhalten nur bei den Dingen Unterstützung, die sie nicht allein durchführen können. Das dient bereits der Vorbereitung auf ihr Leben nach dem Klinikaufenthalt. Dort liegt der eigentliche Zweck dieser frührehabilitativen Komplexbehandlung: Es gilt, die älteren Menschen wieder in die Lage zu versetzen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, damit sie so lange wie möglich in ihrem bekannten Umfeld bleiben können und nicht zum dauerhaften Pflegefall werden. Auch wenn es anfangs Zweifel gab – für Helga Bona ist dies nach der zweiwöchigen Therapie wieder eine realistische Perspektive, die ihr Hoffnung bereitet.

Bald ist es so weit. Ihre Entlassung steht kurz bevor. Die ehrgeizige Rentnerin will in ihr altes Leben zurück, also möglichst nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Alles allein auf die Reihe kriegen. Das bedeutet ihr viel. In ein Heim zu gehen, kommt für Helga Bona nicht infrage. Und das auch noch aus einem anderen Grund. Mit leuchtenden Augen erzählt die Seniorin von ihren Nachbarn, die sich bereits erkundigt hätten, was passiert sei und wann sie denn nun endlich wiederkäme. Im Haus fehle ohne sie etwas.

Ihre Sehnsucht nach zu Hause und Eigenständigkeit treibt sie an, entsprechend beachtlich sind Helga Bonas Behandlungsfortschritte. Die Ergebnisse des anfänglichen Assessments waren klar und deutlich: Zu Beginn der Behandlung konnte sich die 86-Jährige kaum vom Fleck bewegen. Sie war fahrig und konnte sich selbst den Behandlern kaum anvertrauen. Nun spricht eine neue Hoffnung aus ihrem verschmitzten Lächeln, da Helga Bona schon wieder zügigen Schrittes durch das Klinikgebäude huscht, gestützt nur von ihrem Rollator. Zu Hause habe sie auch so ein Teil. „Aber das steht im Keller“, sagt sie.

Das dürfte sich nun erst mal ändern. In Absprache mit der Patientin haben die Sozialarbeiter des Geriatriezentrums bereits die wichtigsten Planungen für die Zeit nach der Entlassung vorangetrieben. „Ein neues Bett haben sie mir auch schon reingestellt“, sagt Helga Bona. Und auch für den Fortgang der Physiotherapie ist gesorgt. Damit der Rollator vielleicht eines Tages doch wieder im Keller verschwindet.

Hauke Hohensee

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