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Der 90-Jährige Werner Lehmann betreibt seine Solinger Schleiferei in Berlin-Schmargendorf seit 1957.

© Sven Darmer

Berlins letzte Solinger Schleiferei: Herr Lehmann schließt den Laden – mit 90 Jahren

Messer für Messer, seit 76 Jahren. Werner Lehmann tut, was sonst in Berlin keiner mehr tut: Er schleift nach Solinger Art. Doch bald geht er in den Ruhestand.

Herr Lehmann scheint nicht recht zu begreifen, was der Rummel um seine Person soll. Er hat eine Lehre gemacht, hat einen Beruf ausgeübt und hört jetzt auf. Wie unzählige Menschen vor und nach ihm. Seinem Sohn ist zu verdanken, dass er überhaupt zu einem Pressetermin bereit ist, der habe den Vater überredet. Nicht ohne Stolz zeigt der Sohn einige Zeitschriften und Bücher, mit Einträgen, Erwähnungen, Berichten über das Geschäft in der Zoppoter Straße in Schmargendorf, gesammelt und pfleglich aufbewahrt. „Wirf das weg“, fährt ihm der Vater dazwischen.

„Ich habe eine Solinger Schleiferei,“ erklärt Herr Lehmann, „in der seit den fünfziger Jahren nach Solinger Art geschliffen wird. Darum steht auch Solinger Schleiferei draußen geschrieben.“

Hunderte Messer, dazu Scheren, Wetzstähle, Stahlwaren und Zubehör umrahmen den Verkaufstresen. Manche der hier feilgebotenen Güter sind bereits vor Jahrzehnten bei den Herstellern eingekauft worden und andernorts längst nicht mehr neuwertig zu bekommen. Inmitten der ihn umgebenden Jahre thront der letzte Solinger Schleifer Berlins, die Gehhilfen gut erreichbar in ein Regal geklemmt, mit dem milden Gesichtsausdruck eines Mannes, der nun einer Phase der Erholung entgegenblickt.

"Vielleicht in ein Altenheim gehen"

Gestatten, Werner Lehmann, Jahrgang 1928. Lehre zum Schmied ab 1942, im Alter von vierzehn Jahren. Als er 1946 eine Gesellenstelle suchte, habe ihm der Obermeister der Innung einen in Berlin arbeitenden Solinger Schleifer empfohlen. Die Solinger Art, zu schleifen, sei besonders: auf Kniehöhe, mit einem zum Schleifer hin statt von ihm weg drehenden Schleifstein. Umlernen habe er müssen, hart sei das gewesen. Aber auch sein großes Glück, denn fortan habe er kaum Konkurrenz gehabt in Berlin. Länger könne er es aber nicht machen, sagt Herr Lehmann. Das Alter lasse es nicht zu. Er wolle jetzt „versuchen, vielleicht in ein Altenheim zu gehen“.

So erzählt Herr Lehmann seine neunzig Jahre bisheriger Lebensgeschichte. Sein Sohn könne noch die hinten im Laden gelegene Werkstatt zeigen, dann noch ein Foto, Bericht fertig.

Was sollte es darüber hinaus auch zu erzählen geben, aus einem Leben, das ein Jahr vor der Weltwirtschaftskrise begonnen hat und sogleich in den Tiefpunkt der deutschen Geschichte gestolpert ist? Das mit der Entstehung der Bundesrepublik Fahrt aufnahm, von den Trümmern zum Wirtschaftswunder, den Mauerbau, das Atomzeitalter, den Zusammenbruch einer Weltordnung umfassend. Alles das von Berlin, dann West-Berlin, dann wieder Berlin aus erlebt.

Ein Kunde mit mehreren großen Messern in der Hand tritt durch die Tür. „Guten Tag, Herr Lehmann!“ Alle zwei Jahre komme er zum Nachschleifen in das Geschäft, in dem er die Messer vor zwanzig Jahren gekauft habe. Wie es jetzt weitergehen solle, mit seinen Messern, frage er sich. Der Sohn zuckt die Schultern, deutet auf einen Stapel Kisten: bis September müsse der Laden geräumt sein und all das sei noch zu schleifen. „Wann soll mein Vater denn das alles machen“?

Vor allem professionelle Köche als Kunden

Mit zwischenzeitlich aufgesetzter Lesebrille und auf den letzten Seiten aufgeschlagenem Auftragsbuch kann Herr Lehmann das Gespräch offensichtlich kaum länger ertragen: „Ja, ich will’s versuchen, dass ich Ihnen die drei Messer noch mache,“ sagt er bestimmt. Der Sohn schüttelt den Kopf. „Wir legen sie da mal dazu. Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen… wenn Sie sie im August abholen kommen, seien Sie bitte nicht enttäuscht, wenn die dann nicht gemacht sind.“

Achtzig Prozent seiner Kunden seien professionelle Köche gewesen, sagt Herr Lehmann. Darunter die des KaDeWe, des Hotel Zoo, des Kempinski. Die Solinger Art sei unübertroffen, das habe man zu schätzen gewusst. Dennoch sei das Geschäft stets ein hartes gewesen. So habe er nie Angestellte gehabt und niemanden ausgebildet. Auch aus der Familie habe er keinen Nachfolger gewinnen können.

Zwei seiner drei Söhne hätten promoviert, einer in Nachrichtentechnik, einer in Maschinenbau. Der älteste habe Elektrotechniker gelernt und Herrn Lehmann auch im Laden ein sorgenfreies Leben beschert, in elektrischer Hinsicht. Gute Söhne seien sie alle. Aber den Laden übernehmen, das habe keiner gewollt. Verständlich, wie Herr Lehmann anmerkt, es sei ja auch Knochenarbeit.

Keine Spur bei ihnen von der romantischen Verklärung klassischer Handwerksberufe, die Bildungsbürgern oft eigen ist. Von Anfang an hätten sie auch die praktischen Seiten des Geschäfts kennengelernt, sagt Herr Lehmann. Und ganz am Anfang sei der Beruf noch richtig gefährlich gewesen. Denn früher habe man auf Sandstein geschliffen, der beim Schleifen einen tödlichen Staub absonderte. „Die Solinger Schleifer sind damals alle an der Staublunge gestorben.“

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Mehrere Kunden und Familienangehörige gehen ein und aus. Manche holen erledigte Schleifaufträge ab, andere wollen noch etwas vom alten Bestand kaufen. Irgendwann sind acht durcheinander sprechende Personen im kleinen Verkaufsraum – ein Kunde kauft alle Messer einer Art, die es noch gibt. Ein anderer, dessen sich Herr Lehmanns Schwiegertochter annimmt, erweist sich als kompliziert zu beraten und stiftet mit mehreren parallelen Anfragen Verwirrung.

Herr Lehmann folgt, mit dem Auftragsbuch in der Hand, den Gesprächen. Die Kasse geht auf und zu, Münzen, Scheine, Messer wechseln ihre Besitzer. Gegenstände werden abgelegt und wieder aufgehoben. Eine Klinge wird mit Spiritus von ihrer Wachsschicht befreit – ein beißender Geruch durchdringt den Raum. Als sich der Tumult legt, schaut Herr Lehmann in die Gesichter seiner Kundschaft. Ob es einen neuen Auftrag zu vermerken gebe, fragt er seinen Sohn.

Der Ausverkauf in der Zoppoter Straße 11 läuft noch bis Ende August. Von Schleifaufträgen ist abzusehen.

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