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Berlin: Hey Jungs, da kommt er

Kennedys Fahrt führte auch zur Mauer zwischen Ost und West. Nur zwei Jahre zuvor wäre hier aus dem Kalten Krieg fast eine heiße Konfrontation geworden. Eine Erinnerung.

Heiter mit nur sehr geringer Niederschlagsneigung“ hatte der Wetterbericht für diesen 26. Juni angekündigt. Beste Bedingungen also für den Besuch an diesem Mittwoch, der die ummauerte Stadt schon seit Tagen in eine fiebrige Erwartungshaltung versetzt hatte, von der sich niemand frei machen konnte, die jeden gepackt hatte. Unangemessen, so schien es manchem, war nur die Wortwahl im Wetterbericht: „Der Luftdruckanstieg der letzten Tage hat Deutschland in das Niemandsland zwischen zwei Fronten gebracht“, hatte im Tagesspiegel gestanden. Auf so eine Wortwahl reagierte man empfindlich in Berlin; man lebte schließlich in der „Frontstadt“. Hier aber ging es um ganz andere Fronten: Über der Nordsee hing das Tief „Melusine“, und über Warschau, weit im Osten, hielt sich der Kern eines Hochdruckgebiets.

Warschau, das war nicht nur an diesem Mittwoch für die Jugendlichen unvorstellbar weit entfernt, weit hinter jener weißen Linie in der Friedrichstraße, doch mit Niemandsland, da kannten sie sich aus. Allerdings, Niemandsland war eigentlich nicht der korrekte Begriff, denn die paar Meter vor der hässlichen Mauer mit dem Stacheldraht obendrauf gehörten eigentlich schon zu Ost-Berlin.

Aber von Ost-Berliner Seite kamen nur selten Soldaten zur Inspektion des Mauerwalls, hinter dem die Todeszone lag, mit starken Scheinwerfern und gerodetem Todesstreifen. Und von West-Berliner Seite trauten sich die Polizisten auch nicht auf diesen Streifen im Schatten der Mauer. In diesem Niemandsland hatten sich die Jugendlichen schon häufiger aufgehalten, und die kleineren Jungen hatten zugeschaut, wenn sich die Älteren mit wichtiger Geste eine Zigarette ansteckten.

Jetzt waren sie wieder hier. Nur waren es jetzt tausende Menschen, die hier standen und jenem Mann zujubelten, der hundert Meter entfernt auf einem weiß gestrichenen Podest stand und nach Osten über die Mauer schaute. Gut, dass er so erhöht stand. Sonst hätten die 13-Jährigen den US-Präsidenten nicht mal sehen können inmitten der Menge. Sie hatten ihren Platz gefunden in dem schmalen Streifen zwischen der Mauer, deren Platten und Steine so grob und nachlässig gefugt waren, dass der Mörtel dazwischen sich herausgedrückt hatte, und der Fassade des einzigen Hauses, das der Krieg an diesem Ort noch übriggelassen hatte.

Die Apotheke „Zum weißen Adler“, die sich hier im toten Winkel der Weltgeschichte noch einige Jahre halten sollte, bevor sie 1970 ganz dichtmachte, hatte an diesem Tag geschlossen. Oben in den Fenstern des Eckhauses aber, das 18 Jahre nach Kriegsende immer noch den Charakter hatte, als sei es nur notdürftig hergerichtet, standen die Menschen und winkten dem Präsidenten zu. Schon Tage vorher hatte die Polizei – wie überall in der Stadt – die Bewohner aufgesucht wegen der Sicherheit des Präsidenten.

Alle Mieter waren mit Merkzetteln versorgt worden, auf denen ihnen eingeschärft wurde, dass sie keine Fremden in ihre Wohnung lassen sollten. Die Hausbewohner, die ansonsten näher an der Trennungslinie zwischen den Weltmächten lebten, als ihnen lieb war, hatten erneut einen Logenplatz. Diesmal jedoch war es ein Anlass zur Freude. Sie konnten direkt hinabsehen auf den Präsidenten und auf die vielen Kamerateams. Die standen auf einer eigens aufgebauten Plattform, direkt neben dem großen Schild mit der Aufschrift in Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch: „You are leaving the American sector“.

Kurz nach 12 Uhr mittags war es, die Luft war sommerlich warm. Der Präsident war seit dreieinhalb Stunden in der Stadt. Acht Stunden waren eingeplant für den Besuch in der geteilten Stadt, dem westlichsten Vorposten der demokratischen Welt. Eine kurze Zeit, doch für die Berliner waren es die längsten acht Stunden ihrer Geschichte. Von diesem Tag hat jeder Berliner, der dabei war, eine Erinnerung. Der Besuch John F. Kennedy ist eingebrannt in die kollektive Festplatte von West-Berlin; vergleichbar nur jener Nacht, als die Mauer aufging im November 1989. Das aber sollte noch 26 Jahre dauern.

Am 26. Juni 1963 war West-Berlin eine in ihrer Zukunft bedrohte Stadt. Frisch in Erinnerung war noch die Blockade der Halb-Stadt durch die Sowjetunion 1948, als die westlichen Alliierten, und vor allem die USA, über eineinhalb Jahre die abgeriegelte Stadt mit täglich hunderten Flügen der Rosinenbomber versorgt hatten und ihr Überleben sicherten. Seit dem 13. August 1961, seit die DDR-Regierung mit Billigung der sowjetischen Führung das unmenschliche Bollwerk gebaut hatte, waren die Berliner in einem unausgesprochenen mentalen Schockzustand, einer kollektiven Depression, weil niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Viele hatten schon nahezu verschämt und heimlich die Konsequenzen gezogen, hatten ihre Häuser oder Grundstücke verkauft oder waren dabei, die Produktion ihrer Unternehmen Stück für Stück zu verlagern in die sichere Bundesrepublik.

Und nun kam ein Präsident, der Mut machte. „John – you our bestfriend“, steht in einem etwas ungelenken Englisch auf einem Plakat; für das Leerzeichen hatte wohl der Platz gefehlt – oder auch die Sprachkenntnis. Es war egal. Schon auf dem Weg nach der Landung auf dem Flughafen Tegel ins Stadtzentrum hatten hunderttausende Berliner an den Straßenrändern gestanden und diesem ungemein charmanten Präsidenten zugejubelt. Er hatte sich auf der Fahrt durch die Stadt schon eingeschrieben ins Herz der Menschen, die in einer vorher nicht eingestandenen Weise gedürstet hatten nach Ermutigung, bevor er noch vor 400 000 Zuhörern am Rathaus Schöneberg jenen einen Satz sagen sollte, der wie eine Beschwörung war und ein Versprechen zugleich: „Ich bin ein Berliner.“

Die gesamte Stadt hatte sich seit Tagen auf den Besuch vorbereitet. Alle sollen, alle wollen den Präsidenten sehen. Die Ämter bleiben geschlossen, in vielen Betrieben ruht die Arbeit, die Gerichte haben nur einen Notdienst, und auch alle Museen bleiben geschlossen. Nicht nur die Müllabfuhr fällt aus, sogar die Brötchen werden früher gebacken, weil die Bäckereiinnung ab 12 Uhr eine Schließung der Läden empfiehlt – ebenso verfahren die Fleischerbetriebe und die anderen Lebensmittelhändler.

Auch die Postämter schränken ihre Öffnungszeiten ein. Dafür aber gibt es einen Post-Sonderstempel mit der Inschrift: „Besuch des USA-Präsidenten Kennedy“ und dem Staatswappen der USA. Selbstverständlich fällt auch der Schulunterricht an diesem sonnigen Mittwoch aus – dass auch die Sommerbäder in allen Bezirken geschlossen bleiben, ärgert nur ganz wenige Schüler. Sie alle wollen sowieso nur Kennedy schauen, dessen Route sie seit Tagen kennen, weil jede Zeitung den Plan abgedruckt hatte. Überall in der Stadt haben sich die Menschen Plätze ausgesucht, um einen besonders guten Blick auf Kennedy zu bekommen. Menschen sitzen oben auf Verkehrsschildern oder Laternen, klammern sich stundenlang an Zäune oder haben aus Bierkisten Pyramiden gebaut, um in wackliger Höhe einen Blick zu erhaschen.

Das Schild zur Begrüßung des so jugendlich wirkenden Chefs der westlichen Weltmacht ist den Jungen am Checkpoint Charlie da schon irgendwie abhanden gekommen. Sie grämen sich nicht über den Verlust des unhandlichen Holzstiels mit angenagelter Pappe. Das war ihnen im Gedränge der Menschenmassen sowieso schnell lästig geworden.

Am Checkpoint Charlie hatte der Präsident zuerst an der weißen Linie gestanden, die jene Grenze zwischen den feindlichen Blöcken markierte. Er hatte hinübergeblickt nach Ost-Berlin, wo weit entfernt am Ausgang des U-Bahnhofs Stadtmitte sich einige hundert Menschen eingefunden hatten. Am Brandenburger Tor hatte die DDR-Regierung noch mit großen Planen einen Blick von hüben nach drüben verhindert, nun versuchen die Menschen es eben an der Friedrichstraße, John F. Kennedy trotz der aufmarschierten Volkspolizisten nahezukommen. Einige Minuten schauten die US-Gäste in den Osten. Der Bruder des Präsidenten, Robert Kennedy, der fünf Jahre nach der Ermordung seines Bruders ebenfalls einem Anschlag zum Opfer fallen sollte, hatte seinen Fuß sogar jenseits der weißen Linie postiert.

Im Niemandsland stand er also, wie jene Kreuzberger Jugendlichen, die sich hier jeden Tag aufhielten. Denn am Checkpoint Charlie, dem Übergang für Ausländer mit der kleinen Kontrollbaracke, waren all die schicken und in Berlin seltenen ausländischen Wagen zu sehen, die hinüber durften in den „Ostsektor“. Es war dieselbe Stelle, an der die Jugendlichen auch knapp zwei Jahre zuvor gestanden hatten, als dort Weltgeschichte gemacht wurde und sich die Panzer gegenüberstanden: Hier die „nach drüben“, in den sowjetischen Machtbereich gerichteten Panzerrohre der Amerikaner, auf der anderen Seite die sowjetischen Panzerkolosse. Das waren Tage gewesen, als die Welt den Atem anhielt.

In diesen Tagen, so hatten es die Jungs empfunden, war die Stimmung am Checkpoint Charlie gedrückt, auf merkwürdige Weise still, als ob schon unangemessener Lärm eine Eskalation hätte auslösen können. In jenen Tagen im Oktober 1961 hatte der frisch gewählte US-Präsident Kennedy einen Sonderbeauftragten, General Lucius Clay, nach Berlin entsandt – jenen Mann, der den Berlinern schon einmal, während der Blockade und der Luftbrücke, gezeigt hatte, dass die USA entschlossen waren, sich nicht der sowjetischen Führung zu beugen.

Und nun war der Präsident selber gekommen zum Checkpoint Charlie. Nun war nicht die Zeit der Stille, nun war die Zeit des Jubels. Als der Präsident von der Aussichtsplattform herunterstieg und die hundert Meter zurücklief zur Kochstraße, wo die Wagenkolonne wartete, da mussten auch seine Personenschützer aufgeben. Sie hatten schon zuvor, auf der Fahrt durch die Stadt, immer wieder Menschen abdrängen müssen, die auf den offenen Wagen zugestürzt waren, um Kennedy die Hand zu schütteln. Mancher hatte ein Kleinkind auf den Schultern oder einen Blumenstrauß. Und eine Bäckersfrau versuchte vergebens, eine Torte in den Wagen zu reichen.

Hier nun an der Kochstraße tauchte der Präsident selber in die Menschenmenge ein und schüttelte die Hände von begeisterten Berlinern. Ich weiß nicht, was mich je stärker beeindruckt hat als dieser Empfang in Berlin, habe Kennedy nach dem Abflug zu ihm gesagt, erzählte später sein Vertrauter Pierre Salinger, der Pressechef des Weißen Hauses. Mitten in der Menge, ein Albtraum für die auf Sicherheit bedachten US-Geheimdienstler. Auch die zur Absperrung eingeteilten Berliner Polizisten verloren ihre strenge Formation; nur ihre weißen Mützen blitzten noch in der großen Menge auf. Bis der Präsident wieder einstieg in seinen nachtblauen Lincoln, um seine Triumphfahrt fortzusetzen – wo die Berliner Konfetti und Luftschlangen auf den Präsidenten regnen ließen. Ein emotionaler Ausnahmezustand, der acht Stunden dauerte. Die längsten acht Stunden der Berliner Stadtgeschichte.

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