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Berlin: Ich glaub, mich lehrt ein Pferd

In Neustadt/Dosse gibt es Reiten als richtiges Schulfach. Das mache Kinder erfolgreicher, sagt der Lehrer

Ja, natürlich, Reiten auch, aber noch viel wichtiger: Menschwerdung. Hendrik Falk springt vom Stuhl auf und ist schon raus, vorbei an den Stangen voller Sättel, den Kästen mit dem Putzzeug, der Mahnung aus der Stadtverwaltung: Wer auf Radwegen reitet, handelt regelwidrig und wird bestraft. Falk eilt energischen Schritts, auch durch Pfützen, rüber ins provisorische Stallzelt, in dem 16 Pferde in ihren Boxen stehen und es friedlich ist.

Als dann die Kinder kommen, sie tragen Hosen mit Lederbesatz und Helme unterm Arm, faltet Falk ein Papier auseinander und liest vor: „Visionen alleine reichen nicht, was folgt, sind Fleiß und Arbeit.“ Er fragt: „Was bedeutet das?“ Dass man üben müsse, wenn man was erreichen wolle, sagen die Kinder, und Falk nickt. Das war die Philosophieminute, die er jeder Reitstunde voranstellt, damit die Kinder nachdenken, und er teilt die Pferde zu. Immer zwei Kinder pro Pferd.

Mittwoch, 12 Uhr 30, die siebten Klassen der Gesamtschule Neustadt/Dosse haben ihre Wahlpflichtkurse, und einer davon macht die Schule bundesweit einzigartig: Der Kurs heißt Reitsport.

Die Schule will damit Schüler anlocken, die knapp werden im ländlichen Raum. Nach langen Diskussionen mit Schulträger, Landesbildungsministerium und dem nachgemeldeten Landesgestüt Neustadt/Dosse, dessen Pferde von den Schülern geritten werden, startete der erste Kurs 2001. Schon ein Jahr später wurde das Internat Spiegelberg eröffnet, in dem Kinder wohnen, die extra für den Schulbesuch zuziehen. Heute reiten etwa 150 der insgesamt 500 Gesamtschüler. Rachel etwa, zwölf Jahre alt, die zwei Pferde hat und später mal was mit Pferden machen will. Oder Caro, die seit sechs Jahren reitet und nachher auf der Schimmelstute Fassade fehlerfrei durch die Halle traben wird. Sie sagt, dass sie mal was mit Pferden machen will. Das sagen viele. Therapeutisches Reiten am liebsten. Oder Trainer. Die 17-jährige Carola, die schon im ersten Kurs saß, gehört zu den Besten, sie reitet regelmäßig bei den Neustädter Hengstparaden vor, kann im Damensattel sogar springen. Als sie anfangs im Freundeskreis von ihrem neuen Schulfach erzählt hat, hätten viele ungläubig geguckt. Es sei ja auch gemein gewesen, sagt sie: „Die mussten Französisch lernen, und wir durften reiten.“

Der Flachbau der Schule, das schlossartige Internat und das weitläufige Gestütsgelände – es wird gerade saniert, und die Schule bekommt ein Haus mit Büros, Sattelkammer und Umkleidekabinen – liegen nur ein paar Fahrradminuten auseinander, verbunden durch baumgesäumte Alleen, Wiesen und Weiden. Der Schulsport Reiten ist kostenlos, das Amt finanziert Reithalle und Pferde mit jährlich 130 000 Euro, Vorkenntnisse nicht erforderlich. Anders in der Spezialklasse, die sie seit einem Jahr auch noch haben. In der werden talentierte Nachwuchsreiter täglich nachmittags trainiert, auch gratis, sie müssen aber ein eigenes Pferd haben. Rachel gehört zur Spezialklasse, Caro dagegen hat zwar Talent, aber kein Pferd. Für Kinder wie Caro möchte die Schule irgendwann mal Stipendien anbieten, aber Geldgeber sind rar, und die Schule selbst kann das nicht leisten. Sie weist aber in ihrer jüngsten Auswertung des Reitunterrichts – Titel: „Das Pferd als Wirtschaftsfaktor“ – darauf hin, dass durch die Reitkurse Geld in die Region geholt werde (durch die Internatsschüler) und Jobs entstünden, beispielsweise als Hufschmied.

Hendrik Falk, Jahrgang 1970, sehr blond, nicht sehr groß und von sprudelnder Art, ist seit Beginn dabei, er hat schon am ersten Lehrplan mitgeschrieben, in dem es auch um Mathematik, Physik, Biologie oder Erdkunde geht: Wenn die Größe einer Box berechnet wird oder der Verlauf eines Hindernissprungs, wenn es um den Körperbau des Pferdes geht oder seine geografische Verbreitung.

Falk ist Reitlehrer mit hoher Qualifikation, aber noch viel mehr Werber, Fan und Motor des Schulreitens. Er sagt, er könne jeden trainieren, aber die Arbeit mit den Schülern reize ihn mehr, weil man viele Erfolge sehen würde. Schüler, die reiten, sagt Falk, verbessern sich in ihren gesamten schulischen Leistungen deutlich gegenüber den Schülern mit anderen Wahlpflichtfächern. Was Falk kein bisschen überrascht. Weil die Pferde die Kinder zu besseren Menschen machen. Weil sie von ihnen Geduld, Disziplin und Zielorientiertheit verlangen. Schlüsselqualifikationen für jede Art von Erfolg. Wie sonst, fragt Falk und reißt die weit auseinander stehenden sehr hellblauen Augen noch weiter auf, sollte sich wohl ein 36-Kilogramm-Kind auf einem 650-Kilogramm-Pferd durchsetzen? Es muss sein Gehirn einsetzen. Vom Hirnträger zum Hirnnutzer werden. Das ist Falks Slogan.

Die Siebtklässler, acht Mädchen und ein Junge, haben ihre Pferde geputzt und gesattelt und führen die Tiere nach draußen, wo grüne zerkratzte Kinderholzstühle stehen. Aufstiegshilfen. So komme man rückenschonender aufs Tier, sagt Falk. Er meint den Pferderücken.

Die eine Hälfte der Klasse reitet in die Halle, die andere geht zurück in das Stallzelt, für sie ist jetzt theoretischer Unterricht bei Falks Kollegin Christiane Uhle. Während die Mittagszeit verstreicht und das Gelände in milchiges Herbstlicht taucht, lernen die einen Anatomie des Pferdes und die anderen den richtigen Sitz im Trab. Nach gut 30 Minuten wird getauscht. Christiane Uhle, 34, ist, anders als Falk, ausgebildete Lehrerin, die Zusatzqualifikation als Reitlehrerin erwarb sie nachträglich.

So neu wie der Schule ist das Reiten nur einigen Schülern – und Schulleiter Lothar Linke. Der hat das Reiten heimlich gelernt, als es an der Schule losging, um mitreden zu können über Bahnfiguren, treibende Hilfen oder Hufschlag. Von ihm kam auch ganz am Anfang die Idee. Weil mal eine Oranienburger Schülerin vor ihm saß, die an seine Schule wollte, weil ihr Pferd im Gestüt untergebracht war. Wenn das einer so geht, dann vielleicht auch anderen, hat Linke da gedacht. Inzwischen haben sie sogar Schüler aus Südafrika.

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